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Wie „inklusiv“ ist die Republik? UN-Behindertenrechtskonvention wird in den Ländern kaum umgesetzt

Was für die Kultusministerkonferenz (KMK) und ihr Verhältnis zur UN-Behindertenrechtskonvention gilt, gilt auch für die einzelnen Bundesländer: Es mangelt nicht an Inklusionsrhetorik, wohl aber am politischen Willen zu handeln.

Mit Ausnahme von Bremen und Schleswig-Holstein haben die Länder den Paradigmen­wechsel im Schulsys­tem, den die UN-Konvention erfordert, bislang entweder gar nicht oder lediglich unzulänglich vollzogen: im Interesse des Kindeswohls die Anerkennung des einklagbaren individuellen Rechts auf diskriminierungsfreien Zugang zu einer inklusiven Bildung für Kinder mit Behinderungen zu ermöglichen. Ein Elternrecht, zwischen Förderschule und Regelschule zu wählen, sieht die Konvention hingegen nicht vor. Sie verlangt allerdings, dass die Länder ihr gegenwärtig auf Selektion basierendes Schulwesen schrittweise in ein flächendeckendes inklusives System weiterentwickeln (s. E&W-Schwerpunkt „Recht auf Bildung“, 3/2009 und folgende Ausgaben).

Bremen geht voran

Wie sieht die Lage aus? Bremen hat mit den Stimmen der rot-grünen Regierung und der größten Oppositionspartei CDU bereits im Juni 2009 eine neue Schulordnung verabschiedet, die bis 2011 umgesetzt sein soll. Im soeben begonnenen neuen Schuljahr geht Bremen noch einen weiteren Schritt. Als erstes Bundesland schrieb sich der Zwei-Städte-Staat auch das Recht auf ein gemeinsames Lernen behinderter und nichtbehinderter Kinder ins Gesetzbuch.
„Bremische Schulen haben den Auftrag, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln“, heißt es dort. „Sie sollen im Rahmen ihres Erziehungs- und Bildungsauftrages die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder einer Beeinträchtigung in das gesellschaftliche Leben und die schulische Gemeinschaft befördern und Ausgrenzung Einzelner vermeiden.“ Personal und die Schülerschaft ehemaliger Förderzentren sollen bis zum Schuljahr 2017/18 Teil der Regelschulen sein. Der Schulentwicklungsplan betont, dass „die bremischen Gymnasien von Anfang an und eindrücklich einbezogen sind in den Auftrag zu gemeinsamem Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen“. Eine Einschränkung erfolgt allerdings: Gymnasien sind nicht zuständig für die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen.

Sachsen bleibt Hardliner

Bremen ist mit seinem Inklusionsverständnis vergleichsweise einsame Spitze unter den deutschen Bundesländern. Sachsen profiliert sich dagegen als Hardliner am untersten Ende der Länderskala. Dem sächsischen Kultusministerium gilt schon die Tatsache, dass in Sachsen kein Kind von Bildung und Erziehung ausgeschlossen ist, als Nachweis, die UN-Konvention zu erfüllen. Forderungen, Förderschulen abzuschaffen, werden als Eingriff in die Rechte von Kindern und Eltern entschieden abgelehnt. Im Einzelfall soll die Schulbehörde da­rüber entscheiden, ob der Wunsch der Eltern nach einem gemeinsamen Lernen auch dem Kindeswohl entspreche. Damit liegt Sachsens Kultusministerium hinsichtlich des Elternrechts ziemlich genau auf KMK-Linie. In ihrer rechtlichen Empfehlung geht die KMK weiterhin von einem Spannungsverhältnis zwischen dem Kindeswohl und dem gemeinsamen Lernen aus und erkennt kein einklagbares Recht des Kindes auf diskriminierungsfreien Zugang an.

Fragwürdiger Kurs

Konkrete Gesetzgebungsverfahren sind in fast allen Ländern noch nicht eingeleitet worden. Es zeichnet sich aber ab, dass vor allem jene, in denen die Union an der Regierung beteiligt ist, einen fragwürdigen Kurs des Elternwahlrechts einschlagen und zusätzlich den staatlichen Vorbehalt des Kindeswohls berücksichtigen wollen. Absicht ist, so das Förderschulsystem rechtlich zu legitimieren und zu retten.

Ein dauerhaftes Parallelangebot ist auch das Ziel der hessischen Landesregierung. FDP-Kultusministerin Dorothea Henzler geht davon aus, dass „Förderschulen in ihren differenzierten Formen weiterhin das Schulsystem bereichern werden. Aber das integrative Angebot wird sich in den nächsten Jahren deutlich ausweiten. Das Wohl des Kindes hat bei allen Entscheidungen Vorrang“, heißt es aus dem Kultusministerium.

Das Saarland will ein „echtes Elternwahlrecht“ gesetzlich verankern, eine entsprechende Gesetzesinitiative ist jedoch bislang nicht in Sicht.
Noch keine konkreten Vorhaben gibt es in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Rheinland-Pfalz verweist stolz auf seinen ressortübergreifenden Landesaktionsplan. Kritische Stimmen meinen jedoch, dieser schreibe nur das fort, was ohnehin bereits vorhanden ist. Bayern rühmt sich einer fraktionsübergreifenden Landtagsinitiative. Tatsächlich aber ist der Handlungsauftrag an das Kultusministerium so vage formuliert, dass er selbst die CSU-Linie von Kultusminister Ludwig Spaenle abdeckt.

Die schwarz-gelbe Regierung in Schleswig-Holstein ruht sich derzeit auf den Lorbeeren der ehemals sozialdemokratischen Schulpolitik aus und sieht keinerlei Notwendigkeit, mit bildungspolitischen Initiativen ein inklusives Schulsys­tem voranzutreiben.

Berlin hat zwar jetzt seine Regelstrukturen neu geordnet, aber die sonderpädagogische Konzeption und deren Finanzierung ist weiterhin offen.
Die GEW, die sich mit Verve für Inklusion und „eine Schule für alle“ stark macht, sieht mit großer Sorge, dass bisher in keinem Bundesland eine ausreichende Finanzierung für den Umbau des Schulsystems gewährleistet ist. „Für eine erfolgreiche Inklusion müssen die Bedingungen stimmen!“, heißt es beispielsweise im Beschluss der Bremer GEW, den sie am 11. März 2010 auf ihrem Gewerkschaftstag mahnend an die Adresse ihrer Landesregierung gerichtet hat. Andernfalls ginge die Reform „zu Lasten der Lehrkräfte und der Kinder“ und gerate damit in Gefahr, diskreditiert zu werden.

Nicht wenige erwarten, dass bei der eher trostlosen bundesweiten Gemengelage die rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) zumindest einen hoffnungsvollen Akzent setzen wird.

Rot-Grün* hat sich vor der Wahl zur UN-Konvention bekannt (s. Seite 27). Jetzt soll ein Inklusionsplan auch unter Beteiligung der Wissenschaft zügig auf die Beine gestellt werden. Um allerdings den KMK-Kurs inhaltlich zu ändern, braucht es ein erhebliches Maß an Kraftanstrengung und Unterstützung. Das Deutsche Institut für Menschenrechte könnte hier in seiner Wächterrolle orientierende Impulse für die Bildungspolitik geben (s. Kasten). Der österreichische Monitoringausschuss hat vorgemacht, wie es geht (www.monitoringausschuss.at). Mit seinem Appell, Sonderschulen abzuschaffen und eine tiefgreifende Strukturreform durchzuführen, hat er die österreichische Bildungspolitik unter Druck gesetzt.**