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Bundestagswahl 2021

Weiter denken nach Corona

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Im September wird ein neuer Bundestag gewählt, und es wird eine neue Bundesregierung geben. Diese muss die Umwelt in den Blick nehmen, aber auch die Armut bekämpfen.

Arme Familien mit mehreren Kindern in viel zu kleinen Wohnungen können nicht jedem Kind ein digitales Endgerät und einen eigenen Schularbeitsplatz zur Verfügung stellen. (Foto: Pixabay/CC0)

Das „Ungleichheitsvirus“ – so betitelt die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam ihren Bericht über die zunehmende weltweite Ungleichheit zwischen Arm und Reich im Januar 2021. Oxfam rechnet vor, dass allein das Vermögen von Jeff Bezos, dem Chef von Amazon, zwischen Februar 2019 und Dezember 2020 um 60 Milliarden US-Dollar gewachsen ist. Der Reichtum des Tesla-Gründers Elon Musk hat sich sogar um 131 Milliarden US-Dollar vermehrt. Die Organisation verlangt einen Weckruf für eine demokratischere und gerechtere Weltwirtschaft und fordert die Regierungen zum Handeln auf: Superreiche und Großkonzerne müssten ihren Beitrag in der Krise zahlen.

Auch der Armutsbericht der Bundesregierung stellt im April 2021 klar: Es gibt immer mehr Arme, und die soziale Ungleichheit verfestigt sich, während gleichzeitig die obere Hälfte der Bevölkerung 99,5 Prozent des Gesamtvermögens besitzt. Arbeit schützt nicht vor Armut. Hinzu kommt: Wer einmal arm ist, bleibt arm. Sozialer Aufstieg durch Beschäftigung, Bildung und Eigentumserwerb bleibt oft ein leeres Versprechen. Diese Situation wird durch die Corona-Pandemie erheblich verschärft: Menschen mit geringem Einkommen müssen häufiger Einkommensverluste hinnehmen, und diese fallen bei ihnen stärker aus als bei Besserverdienenden.

Soziale Schere wird größer

Pandemieausbrüche treffen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen wie in der Fleischindustrie heftiger als in anderen Bereichen, und die Inzidenzzahlen in armen Stadtteilen sind höher als anderswo.

Die soziale Ungleichheit zeigt sich auch im Bildungsbereich. Arme Familien mit mehreren Kindern in viel zu kleinen Wohnungen können nicht jedem Kind ein digitales Endgerät und einen eigenen Schularbeitsplatz zur Verfügung stellen. Sie haben auch nicht die Möglichkeit, im Garten zu spielen. Die soziale Schere geht durch die Corona-Pandemie auch in Deutschland weiter auseinander.

Arm und bildungsfern

Die Politik kennt die Folgen von Armut für die Bildung. Aber sie handelt unzureichend. PISA belegt seit 2001 regelmäßig, dass die Chancen der Kinder in Deutschland, einen Berufsabschluss zu erreichen – sei es über die berufliche Bildung oder die Hochschule – für Mädchen und Jungen aus armen Verhältnissen ungleich niedriger sind. Das zeigen auch die seit 2004 alle zwei-Jahre erscheinenden Nationalen Bildungsberichte immer wieder. Zwar steigt die Bildungsbeteiligung, aber das Risiko, bildungsarm zu bleiben, ist weiterhin hoch. Arm, bildungsfern, mit Zuwanderungsgeschichte und/oder mit alleinerziehendem Elternteil, das sind die größten Risiken für gute Zukunftschancen.

Menschen, die Zeitungen nicht wirklich lesen, Diskussionen nicht verfolgen können, Ängste entwickeln, nicht sozial abgesichert sind, werden immer mehr abgehängt. Sie haben nicht die Zeit oder die Kraft, sich am politischen Diskurs zu beteiligen. Mit den sozialen Benachteiligungen gehen auch gesundheitliche einher. Das muss sich ändern. Kita und Schule müssen in die Lage versetzt werden, diesen Menschen mehr zu bieten.

Erfahrungen der „GEW in Bildung unterwegs“-Reisen

Meine 30 Reisen im Rahmen von „GEW in Bildung unterwegs“ haben immer wieder gezeigt, dass die mangelhafte personelle und finanzielle Ausstattung von Kitas und Schulen besonders benachteiligte Stadtteile trifft. Mein Besuch der Herbert-Grillo-Gesamtschule in Duisburg-Marxloh war beeindruckend, die Schüler:innen arbeiteten selbstständig und halfen sich gegenseitig. Aber der Schulleiter berichtete, dass das Internet zusammenbricht, wenn die 60 (!) Laptops für etwa 700 Schüler:innen gleichzeitig in Betrieb sind. An Grundschulen in Marxloh gebe es Klassen, in denen bis zu 60 Prozent der Eltern Analphabeten seien. Die Schule wünscht sich, einen gemeinsamen Bildungsstandort Marxloh aufzubauen – ein Vorzeigeprojekt ähnlich wie in Berlin-Neukölln am Campus Rütli. Mit einer solchen Strahlkraft, dass sowohl Lehrpersonal als auch Eltern für ihre Kinder diesen wählen.

Hinter dem Projekt stehen die Schulleitungen von sechs Marxloher Schulen, darunter Grund- und Gesamtschulen, Gymnasium und berufsbildende Schulen. Sie benötigen ausgebildete Lehrkräfte in multiprofessionellen Teams, in denen Dolmetscher:innen, interkulturelle Berater:innen, Schulsoziarbeiter:innen, Integrationshelfer:innen, Künstler:innen und Logopäd:innen zusammen arbeiten. Den Grundschulen fehlen Lehrkräfte. Nur ein Viertel der Stellen konnte im Sommer 2018 besetzt werden. Den Kindern fehlten damit 3.400 Unterrichtsstunden pro Woche. Gerade an solch benachteiligten Standorten wirkt sich die Pandemie besonders negativ aus. In ganz Deutschland nimmt der Mangel an Lehrkräften in solchen Stadtteilen und in abgelegenen Orten in der Fläche deutlich zu.

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

Ungleichheit bekämpfen

Was tun? Im Wahlkampf vor der Bundestagswahl stellen die Parteien den Bürger:innen ihre Lösungen auch für dieses Problem vor. Darüber hinaus findet Ähnliches bei den Landtagswahlen in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sowie den Kommunalwahlen in Niedersachsen und den Bezirkswahlen in Berlin statt.

Es kann kein „Weiter so!“ geben. Wir wollen, dass die Schere nicht weiter auseinandergeht. Die Transformation der Wirtschaft muss nicht nur die Umwelt in den Blick nehmen, sondern auch die Armut. Die Wirtschaft muss gerechter werden. In den DGB-Gewerkschaften kämpfen wir deshalb für bessere Tariflöhne, für Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge, für einen höheren Mindestlohn. Die Städte dürfen nicht weiter in Arm und Reich getrennt sein, Wohnungen nicht an Investmentfonds verkauft werden. Das Wohnen muss bezahlbar werden.

Teilhabe und Chancen für alle

Wir erwarten eine Bildungsoffensive statt der Drohung, dass die Corona-Schulden möglichst schnell getilgt werden müssten und deshalb in Zukunft nicht mehr Geld für Bildung da sei. Geld ist vorhanden, nur falsch konzentriert. Die Einnahmen des Staates müssen verbessert werden, um das Bildungssystem zu stärken. Die GEW fordert deshalb: Schuldenbremse abschaffen, Einnahmeseite durch gerechtere Steuern stärken, überfällige Investitionen in Bildung tätigen! Fachkräftemangel, Investitionsstau, digitale Ausstattung, Ganztag, politische Bildung und gute Arbeit müssen auf die Tagesordnung der Politik und der Parteien. Deshalb: nachhaltige Investitionen in den Bildungsbereich!

Alle Menschen brauchen Teilhabe und Chancen. Deshalb fordert die GEW beispielsweise mehr Sprach-Kitas und einen besseren Fachkräfteschlüssel, multiprofessionelle Teams in den Schulen und die Beseitigung des Investitionsstaus. Wir wollen, dass die Schulen inklusiv werden. In den benachteiligten Stadtteilen brauchen wir erhebliche zusätzliche Ressourcen nach Sozialindex. Der Zugang zu Hochschulen und zur Weiterbildung muss durch eine BAföG-Reform erleichtert werden.

Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie wir in diesem Land leben wollen. Die Pandemie hat die Schwachstellen in Deutschland und weltweit aufgedeckt. Die Politik muss handeln. Wir haben Vorschläge, die umgesetzt werden müssen. Wir mischen uns ein.