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Fachkräftemangel

„Was da ist, wird irgendwie verteilt“

Werden Förderschullehrkräfte, die an Regelschulen unterrichten, krank, plagt sie oft ein schlechtes Gewissen. Sie wissen: Ersatz gibt es nicht. Der Mangel an Fachkräften im Saarland ist vor allem an Grundschulen und im Bereich Sonderpädagogik groß.

Foto: Pixabay / CC0

Wenn Samara (Name geändert) im Unterricht auf etwas keine Lust hat, wirft sie gerne mal ihre Hausschuhe in der Klasse umher – oder rennt schreiend aus dem Klassenraum. „Ich muss dann abwägen: Laufe ich hinterher oder beaufsichtige ich die anderen Kinder?“, berichtet Grundschullehrerin Ulrike Kaufmann (Name geändert) aus Saarbrücken. Zumal unter den 24 Schülerinnen und Schülern ihrer 3. Klasse „einige mit Zündstoff“ sind. Zum Beispiel Samuel (Name geändert). Wenn der Schüler sauer ist, schmeißt er mit Stühlen oder schlägt andere Kinder. Oder David (Name geändert). „Der Junge zeigt, wenn es ihm nicht gutgeht“, sagt die 56-Jährige. Er beschimpft dann andere Kinder, haut und klaut. Hinzu kommen Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, mit Lernschwäche und Sprachschwierigkeiten. Doch was ihr am meisten zu schaffen mache, sagt die Lehrerin, seien die permanenten Personalwechsel und Vertretungen in ihrem Unterrichtsteam. „Das macht die Arbeit für mich sehr, sehr anstrengend.“ Im Saarland mangelt es an Förderschullehrerinnen und -lehrern. Und an Grundschullehrkräften.

„Auch wenn die Lage vielleicht nicht ganz so gravierend ist wie in anderen Bundesländern, so gibt es auch im Saarland einen Lehrkräftemangel“, sagt Schulleiter Thomas Schulgen, der die GEW-Fachgruppe Grundschulen mit leitet. „Am härtesten trifft es die Grundschulen.“ Dort seien aktuell bereits mehr als 100 Stellen nur befristet besetzt. Die Vertretungslehrkräfte kämen häufig frisch von der Uni und hätten nur ihr erstes Staatsexamen – und zudem oft gar kein Lehramt für Grundschule, sondern für Sekundarstufe I oder II studiert.

„Tatsache ist: Das, was da ist, wird irgendwie verteilt. Und die Schulen müssen gucken, wie sie zurechtkommen.“  (Petra Banuat)

Das Beispiel von Kaufmann zeigt, was dies für den Schulalltag bedeutet. Die 56-Jährige arbeitet an einer Ganztagsschule im Zweierteam. Zuerst erkrankte ihre Kollegin, Diagnose: Burnout. Ein halbes Jahr gab es keine feste Vertretung. Dann kam eine junge Kollegin, doch in den Sommerferien erhielt sie eine Zusage fürs Referendariat am Gymnasium – und war weg. Jetzt arbeitet Kaufmann mit einem Kollegen zusammen, der ebenfalls auf einen Referendariatsplatz am Gymnasium wartet. „Ich investiere jedes Mal Zeit und Arbeit“, sagt Kaufmann. Sie unterstütze die jungen Lehrkräfte, da ihnen inhaltliches wie pädagogisches Know-how für die Grundschule fehle. „Und gerade schwierige Kinder merken sofort, wenn jemand unsicher ist.“

Noch dazu wurde auch die Förderschullehrerin in ihrer Klasse krank. Sie fiel häufig aus, ohne Ersatz. Die Kollegin habe deshalb ein schlechtes Gewissen gehabt, berichtet die 56-Jährige, aus Verantwortung gegenüber Kindern und Lehrkräften. „Der Druck war ihr zu groß.“ Sie sei aus dem Dienst ausgeschieden. Vor allem der Mangel an Förderschullehrkräften ist für Schulen ein großes Problem. Deren Zahl sei bereits seit vielen Jahren deutlich zu niedrig, sagt Schulleiter Schulgen.

Im Schnitt, erklärt Personalrätin Petra Banuat, seien in jeder Klasse etwa sieben Kinder mit besonderem Förderbedarf. Die Lehrkräfte würden damit weitgehend alleingelassen. Früher bekamen Schülerinnen und Schüler mit entsprechendem Bedarf eine bestimmte Zahl an Förderstunden zugewiesen. Durch die Inklusion werden diese Kinder nicht mehr speziell erfasst, stattdessen erhält jede Schule ein Zeitkontingent. Nach welchem Schlüssel die Stunden vergeben würden, sei nicht transparent, sagt Banuat. „Tatsache ist: Das, was da ist, wird irgendwie verteilt. Und die Schulen müssen gucken, wie sie zurechtkommen.“

„Wir brauchen jetzt zusätzliche Lehrerstellen und multiprofessionelle Teams – und nicht erst in zwei Jahren.“ (GEW-Forderung)

Für eine Schule mit 300 bis 400 Kindern gebe es oft nur eine einzige Stelle für eine Förderschullehrkraft, berichtet Andreas Sánchez Haselberger, Hauptpersonalrat für Gemeinschaftsschulen und GEW-Vorstandsmitglied. „Das ist extrem.“ Falle die Lehrkraft wegen Krankheit oder Schwangerschaft aus, gebe es keine Vertretung. Schulgen kennt Grundschulen, die viele Wochen und Monate ohne Förderschullehrkraft auskommen mussten.

Ein Problem ist der fehlende Nachwuchs: Das Saarland bietet keinen Studiengang für das Lehramt für Sonderpädagogik an. Angehende Lehrerinnen und Lehrer machen ihr erstes Staatsexamen meist in Hessen oder Rheinland-Pfalz – und kehren, im besten Fall, fürs Referendariat zurück. Im Studienseminar stünden zwar offiziell pro Semester 45 Plätze zur Verfügung, so Sánchez Haselberger. „Die bekommen wir aber kaum besetzt.“

Seit sechs Jahren gibt es in Saarbrücken einen eigenen Studiengang für das Grundschullehramt – mit Numerus clausus. Nach Ansicht der GEW müsste die Zahl der Studienplätze dringend erhöht werden. 45 Plätze pro Jahrgang seien viel zu wenig, betont Schulgen. Das Kultusministerium in Saarbrücken ist anderer Meinung. „Wir bilden genug aus“, sagt Ministeriumssprecherin Marija Herceg. Der Bedarf an Lehrkräften sei bekannt. „Jede Stelle ist besetzt.“ Natürlich würde man die Zahl der Stellen im Haushalt gerne aufstocken, sagt die Sprecherin, doch im Saarland gebe es eine Haushaltsnotlage. Die Landesregierung stelle ab 2020/21 zwei Millionen Euro zusätzlich für den Aufbau multiprofessioneller Teams zur Verfügung. Diese Mittel würden sukzessive um 100.000 Euro pro Jahr aufgestockt.

Doch die GEW betont: „Wir brauchen jetzt zusätzliche Lehrerstellen und multiprofessionelle Teams – und nicht erst in zwei Jahren.“ Die Bildungsgewerkschaft fordert 400 zusätzliche Stellen für alle Schulformen im Land.

Neue Förderschulen geplant

Das „Verrückte“ sei, sagt Sánchez Haselberger, dass zwei neue Förderschulen im Saarland geplant sind. Niemand wisse jedoch, woher die Lehrkräfte dafür kommen sollen. Trotz Inklusion sinke die Schülerzahl an Förderschulen kaum, berichtet der GEW-Experte. Gleichzeitig nehme der Förderbedarf an Regelschulen zu. Ergo: „Es gibt keine Verlagerung, sondern einen Anstieg. Dieser Entwicklung wird nicht Rechnung getragen.“

Förderschullehrerin Ulrike Schrader (Name geändert) berichtet, dass viele Kinder noch nie im Zoo gewesen seien, im Schwimmbad oder im Urlaub. Wenn die Lehrerin in der 1. Klasse ein Bild von einem Igel hochhält, blickt sie in ratlose Gesichter. Viele Kinder sprechen schlecht Deutsch, kennen kaum Bilderbücher, waren noch nie im Wald. Mehrere Schüler und Schülerinnen haben besonderen Förderbedarf, ein Junge ist geistig behindert, zwei Kinder haben ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Und dann ist da noch Salim (Name geändert). Der Junge aus Syrien ist traumatisiert. Er ist extrem unruhig, fällt vom Stuhl, macht ohne besondere Ansprache gar nichts. In der Pause tritt und haut er andere Kinder. „Er ist nicht bösartig“, sagt Schrader. „Er kann nicht anders.“ Doch klar ist auch: „Er stellt uns alle vor große Herausforderungen.“

Wenn die Förderschullehrerin dabei ist, arbeitet sie viel mit Salim alleine, spielt mit ihm, um erst einmal Vertrauen aufzubauen. „Es wäre schön, mehr Zeit zu haben.“ Auch für die anderen Kinder. Schrader ist fünf Stunden pro Woche in der Klasse, schon vergleichsweise viel. Doch meist ist die Kollegin, die die Klasse leitet, alleine. „Sie ist am Limit“, berichtet Schrader. In so einer Situation wünschten sich viele Lehrkräfte, dass ein schwieriges Kind aus der Klasse genommen wird und auf eine Förderschule wechselt. „Dabei liegt es nur an den Ressourcen“, betont Schrader. „Mit Doppelbesetzung kommst du mit solchen Kindern prima klar.“ Gerade auch mit Kindern wie Salim: „Er ist ein pfiffiges Kerlchen.“

Das Saarland in Zahlen

  • Im Schuljahr 2018/19 arbeiten an den allgemeinbildenden Schulen 7.385 Lehrkräfte, 89 mehr als im Vorjahr.
  • Sie unterrichten rund 90.000 Schülerinnen und Schüler, ein Plus von 0,7 Prozent.
  • An Grundschulen sind 100 Stellen befristet besetzt, 44 Lehrerinnen und Lehrer haben kein zweites Staatsexamen.
  • Für Förderschullehrkräfte stehen 902 Stellen bereit. 
  • An den 36 Förderschulen werden rund 3.300 Schülerinnen und Schüler unterrichtet.
 
Landesvorsitzende Birgit Jenni / Foto GEW Saarland

„Mehr Personal!“

„Wir haben im Saarland einen Riesenbedarf an pädagogischen Fachkräften, vor allem an Grundschulen ist der Mangel extrem. Dort sind 100 Lehrkräfte fach- und schulformfremd eingesetzt. Kommt eine Grippewelle wie im vergangenen Winter dazu, bricht alles zusammen. Klassen müssen zusammengelegt werden, Unterricht findet kaum noch statt. Fällt eine Förderschullehrkraft aus, gibt es überhaupt keinen Ersatz. Wir brauchen dringend eine Lehrerreserve – und mehr Stellen.

Konkret fordern wir von der Landesregierung zusätzlich 400 Planstellen für alle Schulformen. Außerdem braucht es – ganz dringend – mehr Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter, mehr Schulpsychologinnen und -psychologen sowie mehr Erzieherinnen und Erzieher. Inklusion gelingt nur, wenn wir mehr Personal haben. Bis jetzt gibt es so gut wie keine multiprofessionellen Teams an den Schulen, das ist erst im Aufbau. Inklusion ist ein Menschenrecht. Es kann nicht sein, dass dafür kein Geld da ist. So gelingt auch keine Integration. Die Politik zerredet das Thema, auf Kosten der Schülerinnen und Schüler, statt ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Das ist ein Skandal.“

Birgit Jenni, Vorsitzende der GEW Saarland