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Politische Bildung

„Wann, wenn nicht jetzt?“

Der Rechtsruck in der Gesellschaft verstärkt den Ruf nach politischer Bildung. Doch die Realität an Schulen sieht trist aus. Wie lässt sich das ändern? Eine Tagung in Hofgeismar hat unter anderem ein neues Hauptfach angeregt.

Foto: Karl Brunnengräber

Rechtspopulismus ist auf dem Vor­marsch, Behauptungen ersetzen Fak­ten, der Ton in Debatten nimmt an Schärfe zu. Auf der Tagung „Wann, wenn nicht jetzt?“ im nordhessischen Hofgeismar waren sich Teilnehmerin­nen und Teilnehmer im Oktober einig: Die politische Bildung muss gestärkt werden. Ihre zentralen Forderungen: mehr Stunden im Lehrplan, mehr Fach­lehrkräfte, mehr Weiterbildung, mehr Vernetzung. Politische Bildung könne einen Beitrag leisten, undemokrati­schen Entwicklungen entgegenzuwir­ken, sagte Bernd Overwien, Professor für Politikdidaktik an der Universität Kassel. Solange die Bedingungen für den Unterricht schlecht seien, könne sie allerdings „ihre volle Wirkung in der Schule nicht entfalten“.

Dass Lehrkräfte gute Chancen haben, junge Menschen zu erreichen, machte ein Vortrag der ZDF-Moderatorin Ilka Brecht deutlich. Auch öffentlich-rechtli­che Medien hätten den Auftrag, politi­sche Bildung zu vermitteln und Orientie­rungshilfe „in einer immer komplexeren und zunehmend polarisierten Welt“ an­zubieten. Allerdings hätten es politische Formate im klassischen Fernsehen bei jungen Menschen schwer, berichtete die Redaktionsleiterin von „Frontal 21“. ARD und ZDF kämen beim jüngeren Pu­blikum auf eine Quote von gerade mal 6,1 Prozent: „Wir schaffen es nicht, ge­nug Aufmerksamkeit der jungen Ziel­gruppe auf uns zu lenken.“

Da habe Schule einen großen Vor­teil: „Fernsehschauen muss ein junger Mensch nicht. Aber in die Schule müs­sen alle“, so Brecht. Im Netz nähmen Jugendliche meist nur Bruchstücke an Informationen auf, ein Klick auf einen Link – und schon seien sie wieder weg. Lehrkräfte hingegen hätten die Mög­lichkeit, kontinuierlich mit Schülerinnen und Schülern an einem Thema zu arbeiten, mit ihnen über Demokratie, Extremismus oder Europa zu diskutieren. „Das ist toll“, sagte die Journalistin. Zu­mal junge Menschen viel Vertrauen in Lehrkräfte hätten, diese kämen in die­ser Hinsicht nach den Eltern an zweiter Stelle. „Aus diesem Vertrauen erwächst Verantwortung“, so Brecht.

„Grundschulen spielen eine wichtige Rolle, auch wenn es vielen nicht so bewusst ist.“ (Simone Abendschön)

Allerdings machte die Tagung der Evan­gelischen Akademie Hofgeismar in Ko­operation mit dem Fachgebiet Didaktik der politischen Bildung an der Universi­tät Kassel auch deutlich: Im Schulalltag hat es politische Bildung schwer. Häufig unterrichteten Lehrkräfte das Fach, die dafür nicht ausgebildet seien, kritisier­te Overwien. Zahlen aus Hessen und Nordrhein-Westfalen zeigten, dass vor allem an Haupt- und Realschulen teil­weise bis zu 80 Prozent des Unterrichts fachfremd erteilt werden. Außerdem kritisierten die Veranstalter, dass Sozialkunde ebenso wie Geschichte und Erd­kunde in den Stundentafeln fast überall auf eine „Randerscheinung“ reduziert würden. In Grundschulen spiele politi­sche Bildung so gut wie gar keine Rolle; in weiterführenden Schulen würden die Fächer in der Regel in Einzelstunden un­terrichtet, häufig nicht einmal in allen Jahrgängen der Sekundarstufe I.

Dabei ist die Wirkung politischer Bildung belegt: Der Erziehungswissenschaftler Hermann Josef Abs verwies auf die welt­weite ICCS-Studie (International Civic and Citizenship Education Study), laut der sich 14-Jährige mit mehr Wissen eher zutrauten, politisch und so­zial Einfluss zu nehmen. Zudem gehe politisches Fachwissen einher mit einer stärkeren Unterstützung von Toleranz und Gleichberechtigung. Wer mündige Bürger haben wolle, fügte Abs hinzu, müsse allerdings auch in nichtgymnasialen Lehrplänen festschreiben, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Alle Schülerinnen und Schüler müssten, und zwar am besten von Beginn an, gleichermaßen dazu befähigt werden, am politischen Leben teilzuhaben.

Die Politikwissenschaftlerin Simone Abendschön zeigte anhand einer Studie, dass schon Grundschüler über politisches Verständnis und Wissen verfügen. „Grundschulen spielen eine wichtige Rolle, auch wenn es vielen nicht so bewusst ist.“ Die Professorin verwies auf das Zitat des Soziologen Oskar Negt, demzufolge Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss.

„Ohne Reform der Lehrerbildung geht es nicht.“ (Wolfgang Sander)

Die Tagung beschäftigte sich auch mit der Frage, wie politische Bildung gestärkt werden kann. Eine Forderung lautete, Politik, Wirtschaft, Geschichte und Geografie in einem Integrationsfach zu unterrichten. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Sander führte aus, dass es diesen Trend bereits gebe. Allerdings habe sich in den Ländern ein „Wildwuchs“ entwickelt: „Es gibt weder eine gemeinsame Fachbezeichnung noch ein gemeinsames Konzept“, so Sander. Der Wissenschaftler verwies auf die Vorteile eines Integrationsfachs, in dem Themen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet würden. Zudem erhalte es als Hauptfach mehr Gewicht.

Doch: „Ohne Reform der Lehrerbildung geht es nicht“, so Sander, der, weil sich die Inhalte über vier Fachgebiete erstreckten, eine „Ein-Fach-Lösung“ vorschlug. Ohne Kooperation in der Kultusministerkonferenz sei diese aber kaum machbar. Alles in allem: „Eine ziemlich große Baustelle.“ Deshalb forderte Sander als erste Schritte ernsthafte Anstrengungen zur Vernetzung, ein gemeinsames Fortbildungsangebot und eine engere Abstimmung bei den Lehrplänen. Sein Fazit: „Es muss etwas passieren, damit wir uns nicht ganz verirren.“

GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann betonte, dass es mit der Vermittlung von politischem Wissen allein nicht getan sei: Es müsse darum gehen, „Demokratie in der Schule erfahrbar zu machen“. Dafür sei erforderlich, die Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zu stärken. Insbesondere gelte es, Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, die Armut und Ausgrenzung erlebten; ebenso Kinder mit Behinderung oder Lernschwäche. Alle seien gefragt, miteinander das Gemeinwesen zu gestalten. „Wir brauchen junge Menschen, die Kompetenzen haben“, sagte Hoffmann, „und den Willen, die Gesellschaft mitzugestalten. Gerade jetzt, wo die Demokratie in Europa in Gefahr ist.“