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Coronapandemie

„Viele Schulen hatten kein Konzept“

Thomas Rathgeb, Leiter des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest, bewertet die Umfrage-Ergebnisse zu „Lernen und Freizeit in der Corona-Krise“.

Foto: Pixabay / CC0
  • E&W: Welches Ergebnis der bundesweiten Stichprobe hat Sie am meisten überrascht?

Thomas Rathgeb: Dass 30 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler mitgeteilt haben, dass sie nach der ersten Vergabe von Unterrichtsmaterialien kaum noch Kontakt zu ihrer Schule hatten. Offensichtlich fehlte die notwendige digitale Infrastruktur, um einen dauerhaften Kontakt zu den Schülern aufrechtzuerhalten – sowohl in der Schule als auch bei den einzelnen Lehrkräften, die ja von zu Hause gearbeitet haben. Ich denke außerdem, dass viele Schulen kein Konzept und keine passenden Materialien für digitalen Unterricht hatten.

  • E&W: 90 Prozent der 12- bis 13-Jährigen gaben an, die Eltern hätten ihnen beim Lernen und bei den Hausaufgaben geholfen. Nicht alle Mütter und Väter sind dazu willens oder in der Lage – bleibt die Bildungsgerechtigkeit auch hier auf der Strecke?

Rathgeb: In der aktuellen Situation spielt die Technik eine wichtige Rolle. Viele Kinder müssen auf die digitalen Geräte im Haushalt der Eltern zurückgreifen. Und benötigen dazu Unterstützung. Aber die Verfügbarkeit und die Qualität der Unterstützung durch Eltern sind in den Familien sehr unterschiedlich verteilt. Insofern ist auch das Thema Bildungsgerechtigkeit berührt.

  • E&W: Lediglich 7 Prozent erklärten, sie hätten weiterhin einen festen Stundenplan für den Tag und für die Woche. Warum so wenige?

Rathgeb: Einen Stundenplan auch im häuslichen Lernen aufrecht zu erhalten, erfordert viel Abstimmung im Kollegium: Wann werden Aufgaben den Schülern zugestellt? Bis wann sind diese fertigzustellen? Wie viele Stunden am Tag sollen Schülerinnen und Schüler arbeiten? Um dies unter Kontaktverbot abzustimmen, braucht man eine gute und eingelebte digitale Infrastruktur, damit ein zeitlich und inhaltlich getakteter Unterricht aufrechterhalten werden kann. Diese Infrastruktur steht nicht überall zur Verfügung.

  • E&W: 10 Prozent der Befragten gaben an, dass sie oder ihre Eltern von der Schule regelmäßig Aufgaben per WhatsApp erhalten. Das verstößt gegen den Datenschutz. Wie ist das möglich?

Rathgeb: An vielen Schulen ist die Nutzung von WhatsApp untersagt. Aber offensichtlich hatte man in dieser Ausnahmesituation keine Alternative zur Verfügung. Es gibt ja schon lange datenschutz-konforme Messenger in Deutschland. Aber Schulen, die solche Messenger nicht bereits implementiert hatten, fiel es natürlich schwer, sie in einer Ausnahme-Situation wie dieser kurzfristig einzuführen.

  • E&W: Die Online-Angebote der öffentlichen Büchereien werden vor allem von 18- bis 19-Jährigen genutzt. Müssen Bibliotheken mehr tun, um Jüngere zu erreichen?

Rathgeb: Viele bieten Schulen Kurse an. Aber oft erst für die Abschluss-Jahrgänge oder wenn es Richtung Abitur geht. Es stimmt, auch Jüngere könnten die Online-Angebote nutzen, wenn sie Recherche-Kompetenzen hätten, die über Google hinausgehen. Dass hierbei vor allem Ältere aktiv sind, könnte aber auch am Lernplan liegen, da man bei anspruchsvolleren Themen auch auf andere Quellen zurückgreifen muss.

  • E&W: 52 Prozent der Befragten erklärten, bei ihnen habe „Schule zu Hause“ sehr gut oder gut geklappt. Das klingt prima – aber wie selbstkritisch sind Schülerinnen und Schüler, wenn so eine Frage gestellt wird?

Rathgeb: Für uns zeigt dies nur, dass ein Großteil der Schülerinnen und Schüler aus ihrer eigenen Perspektive ganz gut zurechtkam. Bei der eigenen Perspektive spielt ja auch der Anspruch an sich selbst eine wichtige Rolle. Möglicherweise würden die beteiligten Lehrkräfte und auch die Eltern das ganz anders bewerten. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es auch Schüler gab, die nicht zurechtkamen. 10 Prozent haben nur eine Vier vergeben. Und 5 Prozent beziehungsweise ein Prozent nur eine Fünf oder Sechs. Man sollte die Ursachen klären, warum ein Teil der Schülerinnen und Schüler hier nicht mitkommt.

Thomas Rathgeb (Foto: privat)