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Bundestagswahl 2021

Versprechen, nicht eingelöst

Ein Blick quer durch das Bildungssystem zeigt, wie groß die Baustellen in der Bildung sind – und wie wenig Versprechen in der Vergangenheit eingelöst wurden – weil von der Kita bis in die Erwachsenenbildung viel zu wenig investiert wird.

Bildung soll der Türöffner für gesellschaftliche Teilhabe und Wohlstand sein. Für arme Familien blieb diese Tür in der vergangenen Legislaturperiode häufig geschlossen. (Foto: Kay Herschelmann)

Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Herbst nach 16 Amtsjahren nicht wieder antritt, wird es an Rückblicken nicht mangeln. Einer aus der Welt der Bildung führt zurück in ihre erste der vier Amtszeiten, in eine Reise durch Kitas, Schulen, Ausbildungsbetriebe und Hochschulen, mit der Erkenntnis: „Wir müssen eine Bildungsrepublik werden.“ So kam es zu dem Dresdner Bildungsgipfel von 2008; wer heute noch einmal über diesen nachliest, stellt fest: Unter Bildungsexpertinnen und -experten wurde der Gipfel bereits damals eher als Hügel bilanziert, zu zahlreich die Kompromisse, zu wenig ambitioniert die Vorhaben.

Zwei gescheiterte Ziele

Es sagt also schon viel aus, dass er bald 13 Jahre später immer noch als Referenz gilt – mit vor allem zwei gescheiterten Zielen. Erstens: die Halbierung der notorisch hohen Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher. Diese sank von 2008 bis 2013 von 8 auf 5,7 Prozent, seitdem steigt sie aber wieder: 2018 verließen 6,8 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss; mit der Corona-Pandemie dürften es weit mehr geworden sein.

Zweitens: Nicht einmal das in Dresden mühsam vereinbarte finanzielle Gerüst steht. 2015 sollten 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung und Forschung investiert werden, darunter 7 in die Bildung. Während die 3-Prozent-Hürde in der Forschung längst übersprungen wurde, will das bei der Bildung einfach nicht gelingen: Ihr Anteil, konstatiert der Nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2020“, verharrt seit 2014 „auf einem relativ konstanten Niveau von ca. 6,5 Prozent“.

Die nächste Regierung dürfte vor allem an der Verwirklichung des neuen Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsgrundschulplatz gemessen werden: Im Mai brachte das Kabinett das Ganztagsförderungsgesetz auf den Weg, das ab dem Schuljahr 2026/27 jedem Kind, das eingeschult wird, das Recht auf mindestens acht Unterrichts- und Betreuungsstunden täglich montags bis freitags in der (vierjährigen) Grundschule verschafft.

„Im Grunde müssten wir den ganzen Tag radikal individualisierten Unterricht anbieten. Das wiederum können wir schlicht nicht leisten.“ (Philipp Lorenz)

Philipp Lorenz leitet in Berlin-Wedding eine Grundschule, die in schwieriger Umgebung vieles von dem umsetzt, was es in Zukunft viel häufiger braucht: Sie ist gebunden; alle Kinder verbringen so gleich viel Zeit in der Schule. Durch das Berliner Bonusprogramm für sogenannte Brennpunktschulen gibt es 100.000 Euro im Jahr extra, von denen man sich zusätzliche Sozialarbeit und Sprachvermittlung leisten kann. Außerdem wurde eine Stelle umgewidmet, um einen Psychologen einzustellen. „Das ist Gold wert“, sagt Lorenz, „nicht nur für die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern – auch im Kontakt mit den Eltern.“

Lorenz ist stolz auf die Schule, stellt sie gern vor – und lässt dennoch keinen Zweifel aufkommen, wie hart erkämpft das Erreichte, wie eng das Personalkorsett ist: „Die Kinder kommen mit einem riesigen Spektrum an Kompetenzen – und leider auch Defiziten, sprachlich bis motorisch. Im Grunde müssten wir den ganzen Tag radikal individualisierten Unterricht anbieten. Das wiederum können wir schlicht nicht leisten.“ Dafür braucht es – und das gilt natürlich nicht nur für seine, sondern für alle Schulen – eine Lehrkräfteausstattung von 110 Prozent; mehr, wenn – wie an allen Berliner Grundschulen – Quereinsteigerinnen und -einsteiger eingearbeitet werden. Außerdem Zeit für den Austausch in den multiprofessionellen Teams – auch für die über einen freien Träger beschäftigten Erzieherinnen und Erzieher. „Zudem sollte ein Sozialarbeiter pro Jahrgangsstufe, bei uns sind das vier Klassen mit rund 100 Kindern, Standard sein“, sagt Lorenz.

„Eigentlich braucht jede Klasse einen Klassen- und einen Teilungsraum.“

Auch Platz wird benötigt. „Eigentlich braucht jede Klasse einen Klassen- und einen Teilungsraum“, erklärt Lorenz, und sagt dazu, das klinge angesichts der massiven Raumnot an Schulen fast wie ein „Weihnachtsmannwunsch“. Diese Not wiederum steht in direktem Zusammenhang mit dem nach wie vor massiven Investitionsstau, der auch an der Schule von Lorenz groß ist. Außerdem kann sich die Wedding-Schule vieles nur leisten, weil mehr als jede zweite Familie staatliche Transferleistungen erhält; nur dann kommt man nämlich in das Berliner Bonusprogramm.

Universitäre Lehre verliert

Auch die Vorbereitung der Lehrkräfte auf die komplexe Realität an Schulen steht nicht da, wo sie sollte; 2023 läuft zudem die 2013 gestartete „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ aus. Die Berufspädagogin Lisa Lewien ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Qualitätspakt-Projekt an der TU Dresden. Sie hält es für überfällig, den Personalschlüssel im Lehramtsstudium aufzustocken: „Ohne Drittmittel ist gute Lehre kaum noch möglich“, berichtet sie, „es gibt zu wenige Seminare, in denen Studierende nachhaltig arbeiten, ebenso zu wenig Begleitung in die Berufspraxis.“ Folglich könnten Methoden und didaktische Instrumente „kaum ausprobiert, gelernt und professionell begleitet verbessert“ werden. Lewien: „Und das so wichtige Thema Inklusion fällt laufend unter den Tisch.“

Das Lehramtsstudium steht beispielhaft für einen Hochschulbetrieb, der mit der – ebenfalls in Dresden beschlossenen, aber nie ausfinanzierten – Erhöhung der Studierendenquote nicht Schritt halten kann: Von gut zwei auf nahezu drei Millionen stieg die Studierendenzahl seit 2008. Helfen sollten erst die sogenannten Hochschulpakte zwischen Bund und Ländern – die aber nichts daran änderten, dass sich nach Berechnungen von Volkswirtin Mechthild Schrooten zwischen 2010 und 2017 der Ausgabenanteil weg von der Lehre hin zu Forschung und Entwicklung verschob. Seit diesem Jahr werden die Hochschulen durch den „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ mit 1,88 Milliarden Euro jährlich (ab 2024 mit 2,05 Milliarden) unterstützt. Dank einer „bisher nie dagewesenen finanziellen Kraftanstrengung“, wie Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) 2019 nach zähen Verhandlungen konstatierte.

„Weil Geld fehlt, werden weniger Lehrbeauftragte engagiert und Stellen an den Lehrstühlen vakant gehalten. Die Lücken füllen diejenigen, die ohnehin oft nur auf halben Stellen und befristet beschäftigt sind.“ (Daria Bayer)

Aber was kommt davon an? Unter dem Motto „#stop the cuts!“ protestierten Studierende und Hochschulbeschäftigte im April von Hamburg über Göttingen bis Marburg. „In sehr vielen Bundesländern sind Hochschulen strukturell unterfinanziert“, erklärte eine Sprecherin der Mittelbauinitiative bei einer Kundgebung an der Uni Hamburg; angesichts dessen, wie viel Arbeit in den Zukunftsvertrag floss, sei das „ärgerlich“. „Ihr seid exzellent – wir sind insolvent“, hieß es auf dem Plakat neben ihr.

Daria Bayer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Rechtshaus – der juristischen Fakultät der Universität Hamburg –, beschreibt, womit Beschäftigte wie Studierende an der Exzellenzuniversität konfrontiert sind: „Weil Geld fehlt, werden weniger Lehrbeauftragte engagiert und Stellen an den Lehrstühlen vakant gehalten. Die Lücken füllen diejenigen, die ohnehin oft nur auf halben Stellen und befristet beschäftigt sind. So bleibt noch weniger Zeit für die eigene Forschung und Lehre.“ Auch sie beschreibt eine Bildungswelt, unter der vor allem die leiden, die man in Sonntagsreden so gerne mitzunehmen vorgibt.

Zum Wintersemester werden bei den Juristen sämtliche Arbeitsgemeinschaften gestrichen. „Diese sind die einzigen Gelegenheiten, bei denen Jura-Studierende konkret an Fällen arbeiten und in einen persönlichen Austausch mit den Dozierenden gehen können“, erklärt Bayer. Damit wird die Rolle der berüchtigten „Repetitorien“, in die angehende Examenskandidaten Tausende Euro stecken, noch wichtiger – und der Vorsprung der privilegierteren Studierenden immer größer.

Auch ein zweites Ziel des Dresdner Bildungsgipfels 2008 ist nicht erreicht worden: Die Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher sollte halbiert werden. Sie ist bis heute nur geringfügig gesunken. (Foto: Kay Herschelmann)

BAföG-Reform gefordert

Auch die staatliche Studienförderung bietet immer weniger sozialen Ausgleich. Kaum mehr als jeder achte Studierende erhält das seit 2015 vollständig vom Bund finanzierte BAföG, in den 1970er-Jahren war es fast jeder zweite. Experten wie der Bildungsökonom Dieter Dohmen halten zudem angesichts der massiv gestiegenen Kosten, unter anderem der Miete, eine Anhebung um 25 Prozent für erforderlich – statt einer Steigerung von 5 Prozent, wie es sie 2019 gab, gefolgt von 2 Prozent 2020. Die GEW, das Deutsche Studentenwerk und Studierendenverbände rufen seit Jahren gebetsmühlenhaft nach einer echten Reform – nun ist auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) im Boot.

Sie fordert seit Ende April eine höhere Förderquote und ebenso höhere Fördersätze, außerdem eine Liberalisierung der Regelstudienzeit, in der aktuell nur jeder Dritte sein Studium abschließt. Außerdem spricht sich nun auch die HRK für einen Wegfall der Altersgrenze und flexible Lösungen für Teilzeitstudierende aus. Denn: Auf eine Studienrealität, die längst nicht mehr jener der 1970er-Jahre entspricht, wurde das BAföG-System ebenfalls nicht vorbereitet. Studierende, die nicht auf traditionellem Weg kommen, sind sehr oft älter als 30 Jahre – das ist die heutige Altersgrenze für eine Förderung –, Frauen noch häufiger als Männer. Ein Teilzeitstudium ist bis heute nur über einen Ausnahmeantrag förderfähig.

Abschlussquoten der Integrationskurse sinken

Aufgabe des Bundes sind auch die Integrationskurse, in denen Neuzugewanderte aus Nicht-EU-Staaten Grundkenntnisse in Deutsch sowie der Geschichte und der gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik erhalten sollen – und müssen. Das gelingt immer seltener: Laut Nationalem Bildungsbericht sinken die Abschlussquoten seit 2015 „kontinuierlich“, den Deutsch--Test auf B1-Niveau bestanden 2018 nur 52 Prozent. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat zum Jahreswechsel seine Finanzierung der Kurse zwar erhöht, dies jedoch nur unzureichend: Statt 3,90 Euro pro Teilnehmendem und Stunde erhalten die Kursveranstalter nun 4,40 Euro; die Honorare der freiberuflichen Lehrkräfte erhöhen sich auf rund 41 Euro pro Stunde.

Das Prinzip bleibt: Wer Zugewanderte auf das Leben in Deutschland vorbereitet, muss sich dafür weiterhin auf eigene Kosten mit Zertifikaten für Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache ausbilden – und hat einen Job ohne jede Sicherheit; die Corona-Pandemie machte das noch einmal überdeutlich.

„Die müssen sehen, dass sie ihre Kurse voll bekommen, sonst gerät prompt die BAMF-Finanzierung in Gefahr.“ (Ingo Langenbach)

Spricht man mit Ingo Langenbach, erzählt der erst einmal mit Freude, seinen Kurs hätten im vergangenen Jahr trotz Pandemie fast alle bestanden. Dass es insgesamt hakt, wundert ihn nicht: Die Kurse seien oft viel zu groß, zudem oft wild zusammengewürfelt – ohne Rücksicht auf Herkunftsländer, Religion und vor allem die Bildungsbiografie: „Ob jemand drei Jahre in der Schule war oder mit einem Hochschulabschluss kommt, ist ein Riesenunterschied“, erklärt Langenbach.

Die Träger, fügt der Germanist mit mehreren – selbstfinanzierten – Zusatzqualifizierungen hinzu, treffe dabei meist keine Schuld: „Die müssen sehen, dass sie ihre Kurse voll bekommen, sonst gerät prompt die BAMF-Finanzierung in Gefahr.“ Die Forderung, die er mit Blick auf die Corona-Pandemie in einem offenen Brief mit der Überschrift „Aus Daseinsvorsorge wird Daseinsversagen!“ aufstellt: „Integration ist eine Daueraufgabe“, es müsse „sinnvolle und faire Dauerlösungen geben anstatt der Gewissheit auf Altersarmut“.

Auf dem Bildungsgipfel in Dresden beschlossen Bund und Länder 2008, bis zum Jahr 2015 7 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Bildung und 3 Prozent in Forschung zu investieren. Dieses Ziel wurde bis heute nicht erreicht. (Foto: Dominik Buschardt)

GEW für Kita-Qualitätsgesetz

Nach Ansicht vieler Expertinnen und Experten noch viel zu sehr Ländersache ist die seit 2013 qua Rechtsanspruch massiv ausgeweitete frühkindliche Bildung und Betreuung. Laut Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) fehlen allein für die Kinder, die jünger als drei Jahre sind, rund 342.000 öffentlich geförderte Betreuungsplätze in Kita und Tagespflege; laut Bundesfamilienministerium zudem bis 2025 rund 190.000 Erzieherinnen und Erzieher – nicht eingerechnet der Bedarf in den Ganztagsgrundschulen. Zugleich fallen die Betreuungsverhältnisse auseinander; in manchen Ländern im Osten kommen auf eine Erzieherin fast doppelt so viele Kinder wie in Baden-Württemberg. Mit bundesweitem Blick gilt laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Jede dritte Fachkraft in Deutschland steht unter Stress, jede vierte überlegt, ihren Beruf aufzugeben.

Die GEW fordert seit Jahren ein bundesweit einheitliches und verbindliches Kita-Qualitätsgesetz. Der Erzieher Cem Erkisi, Personalratsvorsitzender bei den Kita-Eigenbetrieben Süd-Ost in Berlin, zeigte sich im April nach einem Workshop zu einem solchen Gesetz, veranstaltet von der GEW, der Arbeiterwohlfahrt und dem Bundesverband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder, vorsichtig optimistisch: „Mein Eindruck ist, dass in den Parteien ankommt: Es geht weder ohne zusätzliche Mittel noch ohne eine bundesweite Regelung.“

„Solange der Beruf nicht attraktiver wird, kommen wir nicht weiter.“ (Cem Erkisi)

Fragt man ihn, woran es den Kitas, in seinem Fall denen in Berlin-Neukölln, am meisten mangelt, weiß er kaum, wo er beginnen soll: „Es greift so vieles ineinander: von der Fachkraft-Kind-Relation über die Unmöglichkeit, Ausfälle zu kompensieren, und fehlende Zeit für Teamsitzungen und Gespräche mit Leitung sowie Eltern bis zum Verfassen von Sprachlerntagebüchern und Entwicklungsberichten.“ Auch hier leiden vor allem die, die es am nötigsten hätten: Inklusion, sagt Erkisi, habe sich auch in der Kita längst zum „Reizwort“ entwickelt: „Das zusätzliche Personal erweist sich oft als Mogelpackung. Integrationserzieherinnen und -erzieher übernehmen meist ganz normale Aufgaben. Die Kinder, die mehr Begleitung benötigen, sind aber trotzdem da.“

Bei der Förderung von Mädchen und Jungen aus zugewanderten Familien gelte das Gleiche: „Auch Mehrsprachigkeit ist nur dann eine Ressource, wenn man sie fördert.“ Das 2016 gestartete Bundesprogramm Sprach-Kitas, in dem Kindertagesstätten mit mehr als 40 Prozent Kindern nichtdeutscher Herkunft mitmachen können und dann eine halbe zusätzliche Stelle bekommen, sei angesichts des Bedarfs „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Außerdem fehlten Erzieherinnen und Erzieher, die für den frühkindlichen Spracherwerb qualifiziert sind. Erkisi: „Solange der Beruf nicht attraktiver wird, kommen wir nicht weiter.“