Zum Inhalt springen

Geschlechterparität

Typisch männlich, typisch weiblich

Die Vorstellungen von männlichem und weiblichem Leben, die in der Gesellschaft vermittelt werden, bestimmen nach wie vor die Berufswahl junger Menschen.

Doing Gender nennt die Geschlechterforschung Mikro-Botschaften in Sozialisationsprozessen und alltäglichen Interaktionen. (Foto: Pixabay / CC0)

Es sind jene kleinen Momente wie neulich in einer Hamburger Stadtteilschule, in denen Hannelore Faulstich-Wieland daran erinnert wird, dass sich in Sachen Gender gar nicht so viel getan hat, wie sie hoffte: Ein Projekttag zur Berufsorientierung, Info-Blätter mit Berufsbeschreibungen werden herumgereicht, ein Mädchen bleibt neugierig an einer Seite hängen. „Estrichleger, was machen die denn?“ – „Estrichleger?????? Im Ernst??“, ruft die Lehrerin. Das Mädchen lacht und schüttelt schnell den Kopf. „Ach Quatsch.“ Und blättert weiter. Faulstich-Wieland: „Es sind auch solche Signale, die eine geschlechtsspezifische Berufswahl zementieren.“

Seit Jahrzehnten tritt Faulstich-Wieland, inzwischen emeritierte Professorin an der Universität Hamburg, für Geschlechtergerechtigkeit in Bildung und Berufswahl ein. Im Oktober 2020 hat sie ein Papier über Berufs- und Karrierewege für den neuen Gender-Report der UNESCO veröffentlicht. Die Bilanz ist ernüchternd: In technischen Berufen ist der Mädchenanteil in den vergangenen knapp 25 Jahren gerade mal um einen Prozentpunkt gestiegen. In Mathe und naturwissenschaftlichen Studiengängen haben Frauen zwar um 9,2 Prozentpunkte zugelegt, doch unter dem Strich bleibt die Studien- und Berufswahl immer noch von Geschlechterklischees geprägt.

So stehen bei der Studienwahl in den Top Ten der Männer sechs MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), bei den Frauen dominieren Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Und nach wie vor entscheiden sich Jungen in der Berufsausbildung besonders gern für Kraftfahrzeugmechatroniker, Elektriker und Industriemechaniker, Mädchen wählen zuerst Kauffrau für Büromanagement sowie Medizinische und Zahnmedizinische Fachangestellte. Es scheint, als trete Deutschland bei der Studien- und Berufswahl in Sachen Genderparität auf der Stelle.

„Natürlich ist die Varianz der Geschlechterzuschreibungen heute größer geworden, aber es ist bemerkenswert,  wie tief die Vorstellungen von typisch männlich und typisch weiblich sitzen.“ (Miguel Diaz)

Miguel Diaz, Leiter der Servicestelle der Initiative Klischeefrei, sieht das ähnlich: „Es klafft eine gewaltige Lücke zwischen gesellschaftlichem Bekenntnis zur Geschlechterparität und Umsetzung.“ Klischeefrei, gefördert von Bundesbildungs- und Bundesfamilienministerium, will daher jungen Menschen eine Berufs- und Studienwahl jenseits von Geschlechterzuschreibungen ermöglichen.

„Natürlich ist die Varianz der Geschlechterzuschreibungen heute größer geworden, aber es ist bemerkenswert,  wie tief die Vorstellungen von typisch männlich und typisch weiblich sitzen“, so Diaz. Zum Beispiel: Jungen sind durchsetzungsstark und anpackend, Mädchen empathisch und sensibel. Zahlreiche Studien belegen, wie diese Bilder auf allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns auch heute noch immer wieder neu rekonstruiert werden. Etwa wenn Erwachsene schon bei Babys und Kleinkindern das gleiche Verhalten je nach Geschlecht unterschiedlich bewerten. Diaz: „Willensstark ist der schreiende Junge, eine süße Prinzessin das schreiende Mädchen.“

Doing Gender

Oder durch gesellschaftliche Symbole. Nach wie vor macht die Industrie Geschlechterdualität mit rosa und blauen Produkten zum Geschäft oder werden auf Social Media Mädchen- und Jungen-Channels zum Erfolgsmotor. Oder in den Strukturen, wenn die Unternehmen an der Norm Vollzeitjob festhalten und zur Voraussetzung von Karriere machen. Geschlechterrollen werden aber auch durch politische Entscheidungen zementiert. So sei um das Schicksal von 12.000 Kohlekumpeln nach dem Braunkohleausstieg politisch heftig gerungen worden, die Zukunft von 10.000 Verkäuferinnen nach der Schlecker-Pleite habe dagegen bei den politischen Entscheidungsträgern wenig mehr als ein kurzes Schulterzucken hervorgerufen, kritisiert Diaz.

Doing Gender nennt die Geschlechterforschung diese Mikro-Botschaften in den Sozialisationsprozessen und der alltäglichen Interaktion. „Und diese Sozialbotschaften sind gerade deshalb so wirksam, weil sie nicht offen diskriminieren, sondern implizit und unbewusst laufen“, so der Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde von der Europa-Universität Flensburg. „Deshalb sollten wir Geschlecht gerade in der Schule zu einer wichtigen Reflexionskategorie machen.“ Zum Beispiel, indem Lehrkräfte Mädchen und Jungen abwechselnd drannehmen, um geschlechtergerecht zu handeln.

Karikatur: Christiane Pfohlmann

Haltungen sichtbar machen

In ihrem Projekt gendersensible Berufsberatung versucht Faulstich-Wieland, Lehrkräften diese unbewussten Prozesse und Haltungen sichtbar zu machen. Welche Berufe halten sie für Männer- oder Frauenberufe? Was wissen sie überhaupt über die Tätigkeiten? „Oft stecken falsche Schwarz-Weiß-Bilder in den Köpfen“, beobachtet Faulstich-Wieland. „Die Sicherheitsbranche etwa gilt oft als Männerdomäne, der Reinigungssektor als Frauenfeld.“

In ihren Handreichungen zur Berufsorientierung hat die emeritierte Professorin mit ihrer Kollegin Anna Lucht daher 21 Berufsfelder genauer untersucht und gezeigt, dass die einfachen Bilder vielfach nicht stimmen: So sind zwar knapp 90 Prozent der Beschäftigten in der Sicherheitsbranche Männer, aber bei der Polizei gibt es mehr als 20 Prozent Frauen. Faulstich-Wieland: „Gendersensible Berufsorientierung sollte an Schulen und in der Lehrerausbildung Pflicht werden.“

„Wenn die Girls- und Boys-Days an den Schulen starten, stecken viele Klischees oft schon fest den jungen Köpfen.“

Die Initiative Klischeefrei setzt auf Freiwilligkeit. Diaz und sein Team haben eine Fülle von Materialien für Kitas und Schulen entwickelt, mit denen Fach- und Lehrkräfte das Thema Geschlechterstereotype im pädagogischen Alltag thematisieren können. Vom Berufe-Wimmelbuch und Berufe-Memo für die Kleinen bis zu Liedern, Übungen und Spielen für Schulkinder. 320 Organisationen und Unternehmen haben sich der Initiative bereits angeschlossen. „Wir wollen mit Klischeefrei das Thema in die Öffentlichkeit tragen“, so Diaz. „Denn eine freie Berufswahl unabhängig von Geschlechterstereotypen zu ermöglichen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die bereits in der Kita ansetzen muss – denn wenn die Girls- und Boys-Days an den Schulen starten, stecken viele Klischees oft schon fest den jungen Köpfen.“