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Inklusion am Gymnasium

Träge wie ein großer Tanker

Jahr für Jahr verkünden die Kultusministerien steigende Inklusionsquoten. Aber die Unterschiede zwischen den Schulformen sind enorm. An Gymnasien findet der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung nur selten statt.

Es gibt sie, die Gymnasien mit inklusivem Schulprofil: Vor drei Jahren bekam das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim (Nordrhein-Westfalen, NRW) den renommierten Jakob-Muth-Preis für Inklusion. Die Schule engagiert sich vor allem für die Arbeit mit Flüchtlingskindern. Vor zwei Jahren überzeugte der Schulcampus Rostock-Evershagen in Mecklenburg-Vorpommern die Jury. Hier haben verschiedene Schulformen ein Netzwerk für das gemeinsame Lernen geknüpft, darunter ein Gymnasium. Auch in anderen Bundesländern gibt es solche Beispiele. Doch Inklusion in Deutschland wird in der Regel nicht von den Gymnasien, sondern von Grund-, Gesamt-, Haupt- und Realschulen gestemmt.

Laut dem Bildungsbericht 2018 lag der Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Gymnasien im Schuljahr 2016/17 bei nur 0,3 Prozent. Dabei lautet die Gretchenfrage: Soll das Gymnasium auch zieldifferent unterrichten? Oder soll die Ausbildungsstätte der Leistungsstarken nur dann gemeinsam unterrichten, wenn Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf kognitiv anschlussfähig, sprich „fit fürs Abitur“ sind?

„Auch Gymnasien haben in einer vielfältigen Gesellschaft eine soziale Verantwortung. Sie müssen organisatorisch und personell in die Lage versetzt werden, inklusiver zu arbeiten.“ (Ilka Hoffmann)

Nach Ansicht der GEW müssen Gymnasien in die Lage versetzt werden, einen größeren Teil der Inklusion zu schultern als bisher – und zwar auch mit zieldifferentem Unterricht. „Auch Gymnasien haben in einer vielfältigen Gesellschaft eine soziale Verantwortung. Sie müssen organisatorisch und personell in die Lage versetzt werden, inklusiver zu arbeiten“, fordert Ilka Hoffmann, im GEW-Vorstand verantwortlich für den Bereich Schule: „Leider tut die Politik zu wenig dafür.“ Hoffmann hält unter anderem mehr Fortbildungen für Gymnasiallehrerinnen und -lehrer für nötig sowie Unterstützung bei der Schulentwicklung: „Wir brauchen klare politische Signale, auch was die Integration von Geflüchteten ins Bildungssystem betrifft.“

Kritiker befürchten dagegen, dass das Gymnasium unter dem Deckmantel eines gemeinsamen und zieldifferenten Unterrichts quasi abgeschafft wird. In NRW zeigt sich exemplarisch, wie der Streit darüber Lehrkräfte, Eltern sowie Bildungspolitikerinnen und -politiker spaltet. Die SPD etwa wirft der schwarz-gelben Landesregierung vor, den Gymnasien eine Sonderrolle zu gewähren, indem sie Inklusion nicht zur Pflicht macht. Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) sagt dagegen, Inklusion finde selbstverständlich auch an Gymnasien statt – eben „vorwiegend zielgleich“.

„Die Aufgabe der Inklusion geht damit an den Gymnasien vorbei. Selbst für die Inklusion spezieller Förderbedarfe spielen sie keine Rolle.“

In anderen Bundesländern zeigt sich ein ähnliches Bild. Nach einer Evaluation inklusiver Bildung an Hamburger Schulen wurden 2016/17 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der 5. Klasse zu fast 68 Prozent an Stadtteilschulen und nur zu rund 4 Prozent an Gymnasien unterrichtet (27 Prozent an Sondereinrichtungen). Das Fazit der Forscher: „Die Aufgabe der Inklusion geht damit an den Gymnasien vorbei. Selbst für die Inklusion spezieller Förderbedarfe spielen sie keine Rolle.“

Dabei haben gerade viele Großstadt-Gymnasien die traditionelle Vorstellung von leistungshomogenen Klassen längst aufgegeben, weil ihre Realität eine ganz andere ist: Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund, Kinder mit Rechtschreibschwächen, sozial auffällige Jugendliche und Kinder mit überdurchschnittlichen Begabungen – sie alle lernen zusammen.

„Wenn die Leistungsspanne innerhalb einer Klasse sehr hoch ist, dann ist Inklusion manchmal kaum zu leisten.“ (Miriam Vock)

„Unterricht im Gleichschritt funktioniert schon lange nicht mehr“, sagt die Bildungswissenschaftlerin Miriam Vock. Sie ist Professorin für empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam. Nach ihrer Erfahrung ließe sich auch an Gymnasien deutlich mehr differenzieren als zurzeit üblich. Dafür brauche man aber eine gute Ausstattung und die Möglichkeit, kleinere Lerngruppen zu bilden. Den Schlüssel für inklusive Bildung sieht Vock in der Teamarbeit: „Nötig sind strukturierte Kooperationsformen – etwa regelmäßiger Austausch über einzelne Kinder, gemeinsame Planung von Unterricht, kollegiale Hospitationen und Fortbildungen.“

Vock benennt allerdings auch Grenzen. Sie versteht, wenn Lehrkräfte die wachsende Heterogenität überfordert, weil ihnen Wissen, geeignete Methoden und Ressourcen fehlen. „Wenn die Leistungsspanne innerhalb einer Klasse sehr hoch ist, dann ist Inklusion manchmal kaum zu leisten.“ Die Forscherin ist überzeugt, dass Unterricht zwar für jeden passen muss. Extrem individualisierte Lernformen, in denen Zusammenarbeit und Gemeinschaft auf der Strecke bleiben, lehnt sie allerdings ab.

„Gymnasien sehen sich besonders in der Verantwortung, hohe Leistungen zu ermöglichen, deshalb müssten gerade sie einen potenzialorientierten Blick auf jedes Kind haben.“ (Simone Seitz)

Inklusion am Gymnasium? Für Simone Seitz, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn, ist das alles andere als ein Gegensatz. Denn inklusive Bildung bedeutet für sie erfolgreiches Lernen – unabhängig von der Herkunft. „Gymnasien sehen sich besonders in der Verantwortung, hohe Leistungen zu ermöglichen, deshalb müssten gerade sie einen potenzialorientierten Blick auf jedes Kind haben“, sagt die Expertin für Unterrichts- und Schulentwicklung. Die Förderung besonders begabter Kinder und das Lernen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind für sie „zwei Seiten derselben Medaille“. Allerdings sieht sie auch, dass die Organisation Schule träge ist wie ein großer Tanker – und dabei lange braucht, um die Richtung zu ändern. „Das Gymnasium spiegelt bis heute seinen ursprünglichen Auftrag: nämlich Schülerinnen und Schüler an den Unterricht anzupassen – nicht umgekehrt“, sagt die Wissenschaftlerin: „Damit meine ich nicht, dass einzelne Lehrkräfte so handeln, aber die Institution insgesamt ist bis heute durch diese Tradition geprägt.“