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"… sich kritisch mit der Sprache auseinandersetzen"

Ein Gespräch mit Corinna Schmude, Privatdozentin für inklusive Pädagogik an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, über ihre neue Studie "Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Kita inklusiv!"*, die gemeinsam vom Paritätischen Gesamtverband, der Diakonie Deutschland und dem GEW-Hauptvorstand herausgegeben wurde.

E&W: Sie haben untersucht, wie Inklusion in den Bildungsprogrammen der 16 Bundesländer verankert ist. Wa­rum?
Corinna Schmude: Die Bildungspläne wollen einen Rahmen für die pädagogische Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher setzen. Damit geben sie eine normative Orientierung vor. Mit der Untersuchung wollten wir herausfinden, welches Verständnis von Inklusion sich in den Programmen widerspiegelt. Uns interessierte: Welche Werte und Normen verbergen sich hinter den Empfehlungen der Politik? Wird die aktive Teilhabe aller Kinder an den Bildungsangeboten als selbstverständlich und selbstbestimmt dargestellt oder verstecken sich in den Formulierungen Vorstellungen von Normalität und Abweichung? Am besten lassen sich diese impliziten Botschaften anhand der Sprache untersuchen.

E&W: Inwiefern?
Schmude: Sprache konstruiert Wirklichkeit und spiegelt sie zugleich. Wer etwa von "Behinderten" spricht, hat ein anderes Bild im Kopf als jemand, der von Menschen redet, die durch ihre Umwelt an der Teilhabe beeinträchtigt werden.

E&W: Was haben Sie herausgefunden?
Schmude: Grundsätzlich: Alle Bildungspläne heben hervor, dass Heterogenität bereichert. Alle sprechen explizit davon, wie wertvoll unterschiedliche Familienkulturen und Sprachen sind. Und alle wünschen sich Chancengleichheit für alle Kinder. In allen Programmen spielen Behinderung, Familie, Sprache, Kultur und Migration, Geschlecht und Integration eine wichtige Rolle. Die Art, wie diese Themen dargestellt werden, bezeichnen wir als "Diskurse". Spannend ist: In allen dieser Diskurse zeigt sich eine "binäre Haltung" ...

E&W: ... das heißt, die Autoren haben eine bestimmte Vorstellung von "Normalität" im Kopf, von der sie "Abweichung" implizit abgrenzen ...
Schmude: Ja, etwa beim Begriff "Behinderung". In den meisten Länderprogrammen existiert ein Bild von Kindern, die hören, sehen und sich bewegen können. Das wird als Normalzustand unterstellt, an dem sich auch die pädagogischen Empfehlungen für die Erzieherinnen und Erzieher orientieren.

E&W: Das heißt konkret?
Schmude: Viele Pläne gehen davon aus, dass Kinder in ihrer Bewegungsfähigkeit nicht eingeschränkt sind. So heißt es etwa in Sachsen: "Kinder lernen früher oder später Schwimmen, Roller- und Radfahren, Tauchen ..." Ähnlich in Sachsen-Anhalt: "Bald da­rauf beherrschen sie Bewegungen von Kopf und Händen, Armen und Beinen, lernen sich zu drehen, zu robben ..." Diese Konstruktion einer "normalen" Entwicklung ist die Basis der pädagogischen Überlegungen in den Bildungsplänen, mit denen anschließend die Kita-Fachkräfte arbeiten.

E&W: Fokussiert sich so die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher automatisch auf die Kinder, die dieser Normalitätsnorm entsprechen?
Schmude: Exakt. In den Bildungsplänen wird oft nicht mitgedacht, dass die Kita-Fachkräfte Bildungsangebote für alle Kinder machen sollen. Mecklenburg-Vorpommern etwa weist die Pädagoginnen und Pädagogen auf den positiven Effekt stimmlicher Vorbilder hin, der die Kleinen zur richtigen Entfaltung ihrer Gesangfähigkeiten bringen könne. "Deshalb hat das Singen der Fachkraft, ihr Vorsingen verbunden mit dem erlebnishaften Zuhören durch die Kinder, einen großen Einfluss auf die Entwicklung der stimmlichen Möglichkeiten der Kinder", heißt es. Und das taube Kind?

E&W: Auch in anderen Bereichen gibt es solche Normalbilder?
Schmude: Ja, nehmen wir z. B. den Begriff "Kultur". Die meisten Bildungspläne setzen Kultur mit Migrationshintergrund gleich. Kultur wird als etwas verstanden, in das man hineingeboren wird und nicht als etwas, das sich im Austausch mit der Umwelt herausbildet. Ein Beispiel ist die Konstruktion "Wir" und "die Anderen": Hessen etwa spricht von "Inländern und Migranten", Bayern rät Erzieherinnen zu fragen: "Welche Städte kennst du noch in unserem - und in deinem Land?" - Kinder mit Migrationshintergrund, selbst wenn sie in der dritten Generation in München leben, werden so unterschwellig als Ausländer abgestempelt. Botschaft: Ihr gehört nicht richtig dazu. Auch im Familienbegriff der Pläne ist Inklusion nicht sichtbar. Die Norm der Kernfamilie - Mutter, Vater, zwei Kinder - wird indirekt überall unterstellt. Kinder, die bei Alleinerziehenden, Pflegeeltern, in Patchwork- oder Regenbogenfamilien aufwachsen, kommen gar nicht vor.

E&W: Weil sie in der Minderheit sind?
Schmude: Ja, aber für das einzelne Kind ist es enorm wichtig zu erfahren, dass andere Lebensformen als normal wahrgenommen und respektiert werden. Wenn solche Signale nicht mal in offiziellen Papieren gesetzt werden, wird der Prozess der Öffnung gegenüber Vielfalt noch lange dauern.

E&W: Gibt es große Unterschiede in den Bildungsplänen?
Schmude: Die Gemeinsamkeiten überwiegen. Es hilft wenig, einzelne Pläne herauszupicken und über Defizite zu sprechen. Es geht uns um eine konstruktive Kritik.

E&W: Was empfehlen Sie der Politik?
Schmude:
Wir haben kein Rezept. In allen Bildungsprogrammen gibt es gute Ansätze, die bloß konsequenter genutzt werden müssten. Indem man etwa von "wahrnehmen und erfahren" spricht statt von "hören und sehen". Entscheidend ist, sich kritisch mit der Sprache und den Haltungen auseinanderzusetzen, die sich in ihr widerspiegeln: Muss die Formulierung so sein? Wie könnte man sie offener ausdrücken? Die finanzielle Ausstattung der Kitas sollte zudem nicht an die Diagnose eines Handicaps einzelner Kinder gebunden sein. Das fördert nur das Denken in binären Kategorien und steht im Widerspruch zur Idee der Inklusion.

E&W: Was empfehlen Sie den Kita-Beschäftigten?
Schmude: In Kombination mit unserem Forschungsbericht sind die Programme eine wunderbare Arbeitsgrundlage. Die Fachkräfte können Schritt für Schritt diskutieren: Was schlagen die Pläne vor, was kritisiert der Forschungsbericht, was halten wir davon, was bedeutet das für unsere Arbeit, unser Team, unsere Kinder? Wie formulieren wir im Alltag offen und inklusiv? Welche unausgesprochenen Normen stecken in unseren Köpfen? Wo gibt es Hindernisse für Inklusion in unserer Kita, in den Plänen, welche Unterstützung brauchen wir?

E&W: Sind solche Überlegungen angesichts mangelnder ­personeller Ressourcen der Kitas überhaupt ­realistisch?
Schmude: Natürlich bräuchten wir dafür einen angemessenen Betreuungsschlüssel und mehr Fortbildung.


*Corinna Schmude & Deborah Pioch: Schlüssel zu guter Bildung, Forschungsbericht Erziehung und Betreuung - Kita inklusiv! Inklusive Kindertagesbetreuung - Bundesweite Standortbestimmung und weitergehende Handlungsnotwendigkeiten. Herausgeber: Der Paritätische Gesamtverband, Diakonie Deutschland - Evangelischer Bundesverband, GEW-Hauptvorstand.