
Güner Balcı: In dem Moment, in dem es zu Anschlägen kommt, ist es schon zu spät – egal aus welcher Richtung der Terror kommt. Man muss viel früher ansetzen. Bezüglich des Islamismus gibt es diesbezüglich Nachholbedarf.
Balcı: Die zivilgesellschaftlichen Institutionen, also auch die Schulen, müssen sich mehr mit den Lebenswelten der muslimischen Jugendlichen auseinandersetzen. Schulen und andere Einrichtungen sind zu weit weg von den Bedürfnissen dieser Schülerinnen und Schüler. Die Mehrheitsgesellschaft kann deren Suche nach Identität und Sinn nicht ausreichend erfüllen Es fehlen entsprechende Angebote zu religiösen Fragen rund um den Islam. Die Politik hat sich viel zu lange auf den Standpunkt gestellt, dass Religion Privatsache sei. Das funktioniert bei Menschen gut, die in einer säkularisierten Gesellschaft sozialisiert wurden, nicht aber bei Menschen, die aus Gesellschaften stammen, in denen die Religion im Privaten bis in die öffentlichen Institutionen hinein eine tragende Rolle spielt.
Balcı: Natürlich kann und darf der deutsche Staat keine Moschee gründen, er hätte aber früher dafür sorgen müssen, dass islamische Theologie ein Bestandteil an den Universitäten wird. Entsprechende Schritte wurden erst vor wenigen Jahren eingeleitet, obwohl seit über 60 Jahren Muslime nach Deutschland einwandern.
Balcı: Damit habe ich gerechnet. Die Menschen, die vermeintlich in dieser Gesellschaft nicht angekommen sind, pflegen einen konservativen Islam, der aber genauso wie das konservative Christentum oder das orthodoxe Judentum seinen Platz in Deutschland hat. Solange es nur um das Ausleben religiöser Bedürfnisse geht, müssen diese Menschen die Freiheiten genießen, die etwa Christen und Juden auch haben.
Balcı: Ja, es wird zu wenig erkannt, dass zum Beispiel Menschen, die ihre Töchter mit Kopftuch in die Schule schicken, sich trotzdem nicht den Islamischen Staat als Staatsform wünschen. Hier muss auch in der politischen Debatte viel stärker differenziert werden. Einwanderung bedeutet immer, dass es Reibungen zwischen Aufnahmegesellschaft und Einwanderern gibt. Allerdings gibt es ein Fundament, das für alle verbindlich sein muss, nämlich die im Grundgesetz festgehaltenen Grundrechte.
Balcı: Nein. Es geht beim Berliner Neutralitätsgesetz um mehr als um ein Kleidungsstück. Die Erfahrungen aus der Schulpraxis sind eindeutig: Dort, wo es einen hohen Anteil muslimischer Schülerinnen und Schüler gibt, existiert häufig ein religiös bedingtes Mobbingklima. Hier laufen gruppendynamische Prozesse ab, die zu einem Bekenntniszwang in der Peer Group führen: Entweder du gehörst zu uns oder du gehörst nicht zu uns! Festgemacht wird das beispielsweise an der Frage, ob eine Mitschülerin ein Kopftuch trägt oder nicht.
Balcı: Eine Lehrerin hat eine Vorbildfunktion; wenn sie ein Kopftuch trägt, setzt sie ein Zeichen in zwei Richtungen – sie bestätigt die Meinungsführer in der Peer Group und übt einen Anpassungsdruck auf Schülerinnen aus, die kein Kopftuch tragen. Die jungen Musliminnen, die das Kopftuch selbstbewusst tragen und von sich sagen, emanzipiert zu sein, blenden diese Mobbingstruktur meines Erachtens aus; sie argumentieren aus einer akademischen Warte, die mit den Lebenswelten vieler muslimischer Schülerinnen nichts zu tun hat.
Balcı: Sie müssen politischer werden. Sie müssen zum Beispiel die Einrichtung von Meldestellen für religiöses Mobbing fordern. Bundesweit gibt es bislang keine einzige solche Meldestelle. Es gibt aber auch andere Probleme. Ich bekomme als Integrationsbeauftragte immer wieder Mails und Anrufe von Lehrerinnen und Lehrern, die verzweifelt sind. Da geht es um Pärchen, die sich nur heimlich treffen können und die von Ehrenmord bedroht sind, oder um Schülerinnen, die nach den Sommerferien nicht mehr zum Unterricht erschienen sind, weil sie im Heimatland ihrer Vorfahren verheiratet wurden.
Balcı: Ja. Deshalb müssen Lehrkräfte schon in ihrer Ausbildung auf solche Situationen vorbereitet werden. Ihnen muss klar sein, dass sie an Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Zuwanderungsgeschichte aus traditionellen Familien mit solchen Problemen konfrontiert werden.
Balcı: Der Islamismus, der die Gesellschaft politisch verändern will, wird heute noch mehr verachtet als früher. Was sich herausgebildet hat, ist ein konservativer Alltagsislam, der für den Einzelnen oder die Einzelne aus der muslimischen Community ein Problem darstellen kann, nicht aber für die Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig sind Muslime ein Bevölkerungsteil, der öffentlich kaum positiv wahrgenommen wird. In Neukölln gibt es mittlerweile Geschäfte, die bereits in der zweiten oder dritten Generation geführt werden und eine neue Tradition von Familienunternehmen begründen. Deren Inhaber und die meisten anderen Muslime im Bezirk sind froh, in einem Land zu leben, in dem grundlegende Freiheiten gewährt werden. Sie wünschen sich für ihre Kinder den sozialen Aufstieg. Das macht sich auch in steigenden Abiturientenquoten bemerkbar.
Balcı: Ja. Die Beschäftigung mit religiösen Fragen kann Kindern – unabhängig davon, ob sie aus einem religiösen Haushalt kommen oder nicht – sehr viel mitgeben auf ihrer Suche nach Identität und Sinn. Nur wenn es die Institution Schule schafft, auch dieses Bedürfnis abzubilden, kann man erreichen, dass Kinder und Jugendliche selbstbestimmt ihre Religion entdecken und Dogmen hinterfragen.
Balcı: Ja, genau.