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Sanierungsstau in Bildungseinrichtungen

Ruinen, die sich Universität nennen

Bröckelnde Fassaden, marode Mensen und Labore: Bundesweit benötigen die Hochschulen nach GEW-Schätzungen insgesamt bis zu 50 Milliarden Euro, um ihre Gebäude zu sanieren.

Foto: Pixabay / CC0

Die Wirtschaftsprüfer der KPMG ließen keine Zweifel. Für „als nicht akzeptabel eingestufte Risiken“ hatten sie in ihrem Jahresbericht auf Seite 38 extra eine eigene Zwischenüberschrift eingefügt. Und die folgenden Zeilen haben es in sich: Das Risiko von „steigenden Gebäudekosten und zunehmenden Sicherheitsrisiken aufgrund von Überalterung und Sanierungsstau bei Gebäuden“ bewerteten sie als besonders wahrscheinlich. 366 Millionen Euro, schätzten die Wirtschaftsprüfer, benötige ihr Auftraggeber, um die bestehenden Mängel an seinen insgesamt 164 Gebäuden zu beheben.

Der Auftraggeber war die Leibniz-Universität in Hannover, die Zahlen stammen aus dem KPMG-Jahresabschluss der Uni für 2014. Und die 366 Millionen Euro, die die Prüfer vor fünf Jahren anmahnten, standen der Leibniz-Universität nie auch nur ansatzweise zur Verfügung – weshalb der Sanierungsstau mittlerweile noch größer geworden ist: Uni-Präsident Volker Epping geht mittlerweile von 420 Millionen Euro aus. „Das größte Problem ist, dass wir unseren Wissenschaftlern und den Studierenden nicht die notwendigen Einrichtungen zur Verfügung stellen“, sagt Epping. Er verweist auf bröckelnde Fassaden, eine marode Mensa und Labore, die so baufällig sind, dass sie aus Sicherheitsgründen geschlossen werden mussten. Einige Gebäude könne man wohl nur noch abreißen, mutmaßte Epping im NDR – und gab die Verantwortung dafür dem Land Niedersachsen: Das gebe jedes Jahr gerade mal vier Millionen Euro für die Sanierung dazu, obwohl 25 Millionen benötigt würden.

„Ich möchte als Präsident verdammt noch mal wissen, wann diese Ruinen, die sich hier Universität nennen, renoviert werden.“ (Dieter Lenzen)

Ein Einzelfall? Mitnichten. Wer bei Hochschulleitungen nachfragt, bekommt in ganz Deutschland schwindelerregende Summen zu hören: An der Martin-Luther-Universität in Halle sind es 100 Millionen Euro, die gebraucht werden. Das klingt fast noch überschaubar, wenn man zum Vergleich nach Göttingen (238 Millionen Euro), an die Universität des Saarlands in Saarbrücken (400 Millionen Euro) oder an die TU Darmstadt (600 Millionen) schaut. Wer ganze Bundesländer betrachtet, kommt erst recht auf unfassbare Zahlen: Mehr als zwei Milliarden Euro fehlen in Niedersachsen zum Unterhalt der Hochschulbauten, 3,2 Milliarden Euro in Berlin und bis zu fünf Milliarden Euro in Bayern.

„Ich möchte als Präsident verdammt noch mal wissen, wann diese Ruinen, die sich hier Universität nennen, renoviert werden“, hatte Dieter Lenzen, Präsident der Hamburger Universität, schon 2014 bei einer Pressekonferenz zur Hochschulfinanzierung gepoltert. Lenzen kennt die Berichte aus seiner Uni von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Studierenden, die bei Regen Eimer und Plastikschüsseln aufstellen. Und er verfolgt die Sanierung der Gebäude wie des Philosophenturms der Universität, der 2017 geräumt, danach über ein sogenanntes Stillstandsmanagement gesichert wurde und nach der Renovierung zum Herbst 2021 wieder für den normalen Unibetrieb zur Verfügung stehen soll.

„Als die Hochschule gebaut wurde, in der optimistischen Phase der 1960er-Jahre, glaubte man, Beton hielte ewig.“ (Josef König)

Direkt im Anschluss geht es dann ab 2022 mit der Sanierung des Geomatikums weiter, dem 1975 errichteten Bau für die Geowissenschaften. „Die räumlichen und technischen Gegebenheiten entsprechen nach 40 Jahren intensiver Nutzung nicht den technischen Anforderungen an ein modernes Lehr- und Forschungsgebäude der Naturwissenschaften“, heißt es bei der Uni. Damit saniert werden kann, sei „die vollständige Räumung des Gebäudes notwendig“. Vom Elite-Nimbus der frisch gekürten Exzellenz-Universität ist bei diesen Themen wenig zu spüren.

Doch mit solchen Schauergeschichten kann Lenzen bei seinen Kolleginnen und Kollegen in den Hochschulleitungen kaum Eindruck schinden. Sie alle kennen ähnliche Erzählungen aus ihren eigenen Einrichtungen. Besonders anfällig: die Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre. Zu denen gehört auch die Ruhr-Universität in Bochum (RUB). „Als die Hochschule gebaut wurde, in der optimistischen Phase der 1960er-Jahre, glaubte man, Beton hielte ewig“, sagt Josef König, langjähriger Sprecher der RUB. König macht eine Rechnung auf: Landesbauten, sagt er, benötigten normalerweise 1 Prozent der Bausumme pro Jahr für den fortlaufenden Unterhalt. „Die Ruhr-Universität – und nicht nur sie – hat in den ersten etwa 40 Jahren ihres Bestehens gerade mal ein Drittel davon zur Verfügung gehabt.“ Dass sich bei einer solchen Fehlkalkulation ein milliardenschwerer Sanierungsstau bilde, liege auf der Hand.

„Wir können nur mit dem helfen, was wir aufbringen können, das ist überschaubar wenig.“ (Björn Thümler)

Bundesweit, so schätzt das HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in einer Studie für die Kultusministerkonferenz (KMK), werde der Sanierungsstau bis 2025 auf bis zu 35 Milliarden Euro anwachsen – ohne die Universitätskliniken und ohne den Sanierungsbedarf, der bereits bis 2008 aufgelaufen war. Was in der Rechnung ebenfalls fehlt: die Aus- und Neubauten, die an den Hochschulen noch zusätzlich benötigt werden. Nach GEW-Schätzungen könnten, kalkuliert man den Gesamtbedarf, bis zu 50 Milliarden Euro zusammenkommen.

Das finanzielle Desaster bei der Sanierung der Hochschulbauten hat seine Ursachen auch in einer Weichenstellung vor mittlerweile 13 Jahren. Mit der Föderalismusreform 2006 hatte sich der Bund aus der Finanzierung des Hochschulbaus zurückgezogen, Errichtung und Unterhalt der Gebäude wurden Ländersache – ein schwerwiegender Fehler, wie das HIS-HE feststellte, als es 72 Universitäten untersuchte und dabei eine dauerhafte Finanzlücke von 38 Prozent konstatierte. Dass der Bund nach der Reform jährliche Kompensationsmittel in Höhe von 695 Millionen Euro zahlte, milderte das Problem nur ab – und das Geld fließt dieses Jahr zum letzten Mal.

Die verantwortlichen Ressortchefs in den Ländern kennen die dramatische Situation – und stehen ihr dennoch weitgehend hilflos gegenüber. „Wir können nur mit dem helfen, was wir aufbringen können“, sagt beispielsweise der niedersächsische Wissenschaftsminister Björn Thümler (CDU), „das ist überschaubar wenig.“ Dennoch sei „die Aufgabe klar erkannt und wir stellen uns der Herausforderung“. Ganz ähnlich klingt Bayerns CSU-Wissenschaftsminister Bernd Siebler, wenn er mit Blick auf marode Hochschulbauten betont, die Staatsregierung habe die „infrastrukturellen Herausforderungen sehr wohl im Blick“.

Das Problem der Wissenschaftsministerinnen und -minister: Sie sind in ihren jeweiligen Landeskabinetten oft Bittsteller bei ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzministerium. Schon im Februar 2016 hatte die KMK beinahe flehentlich auf die maroden Hochschulbauten hingewiesen. Die Sicherung der baulichen Infrastruktur an Unis und Fachhochschulen (FH) sei eine „Aufgabe von nationaler Bedeutung“, heißt es in dem Beschluss: „Die Zukunft Deutschlands wird ganz wesentlich von der Funktions- und Leistungsfähigkeit seiner Hochschulen geprägt.“ Die aber sei gefährdet, weil die Bau-Investitionen an den Hochschulen in den vergangenen Jahren „nicht ausreichend mitbedacht“ worden seien.

Dogma der „Schwarzen Null“

Dass die Versäumnisse der Vergangenheit nicht auf Knopfdruck behoben werden können, ist allen Beteiligten klar. Dennoch hatte die GEW bereits 2017 einen Weg aufgezeigt, wie der Sanierungsstau zumindest angegangen werden kann: Um gute Bildung zu ermöglichen, müsse es eine Abkehr vom Dogma der „Schwarzen Null“ und der Schuldenbremse geben, fordert die Bildungsgewerkschaft. Und auch das Kooperationsverbot von Bund und Ländern müsse komplett abgeräumt werden.

Jedes weitere Zögern vergrößert den Schaden noch mehr. In Bochum lässt sich das gut beobachten: Weil jahrzehntelang bei der Bauunterhaltung gespart wurde, muss die Uni seit 2007 komplett saniert werden. Rund eine Milliarde Euro kostet das Projekt, das bereits seit über einem Jahrzehnt läuft und noch immer nicht abgeschlossen ist. Immerhin: Die Sanierung, so schätzen Experten, ist noch einmal ein paar Hundert Millionen Euro günstiger als ein Komplettabriss und ein anschließender Neubau – auch das war eine Zeit lang erwogen worden.