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Inklusion in der Kita

„Richtig inklusiv ist das nicht“

Gemeinsam lernen und spielen: Das sollte in Deutschlands Kitas eigentlich Standard sein. Aber in vielen Landes-Kita-Gesetzen taucht zum Leidwesen von Behindertenverbänden und Kita-Verantwortlichen nicht einmal der Begriff „Inklusion“ auf.

Wie schwierig es ist, den Gedanken der Kita für alle Kinder in der Praxis umzusetzen, ist am Beispiel der Kita „Preesterbarg“ in Flensburg zu beobachten. Zwar wird die Einrichtung auch von Kindern aus der Nachbarschaft besucht, die nicht beeinträchtigt sind, doch die Mädchen und Jungen mit einer festgestellten Behinderung sind in der Mehrheit, weil die Einrichtung über die nötigen personellen und fachlichen Ressourcen zu deren Betreuung verfügt. (Foto: Esther Geißlinger)

Rufe und Gelächter schallen durch den mit Bäumen bestandenen Außenbereich der Kita Preesterbarg in Flensburg. Kinder turnen auf den Spielgeräten, buddeln in der Sandkiste oder rennen um die Wette. Jannis (Namen der Kinder geändert) kann dabei nicht mitmachen, er hat kaum Kontrolle über seinen Körper. Also liegt er auf einer dicken Matte zwischen den Bäumen und schaut zu. Allein ist er nicht: Lotta sitzt neben ihm und reicht ihm Holzwürfel. Das Spiel scheint beiden Spaß zu machen, jedenfalls eine Weile, dann läuft Lotta – sechs Jahre alt, aber in ihrer kognitiven Entwicklung auf dem Stand einer Dreijährigen – wieder los.

In der Kita Preesterbarg, die zum Trägerverein Adelby 1 gehört, haben viele Kinder eine diagnostizierte Behinderung. Früher wurde hier in heilpädagogischen Kleingruppen gearbeitet. Das neue Kita-Gesetz in Schleswig-Holstein, das nach mehrjähriger Vorbereitungszeit im Januar in Kraft trat, sieht solche Gruppen nicht mehr vor. Jede Kita soll grundsätzlich jedes Kind aufnehmen können, so will es das Gesetz. Keine Trennung mehr in Regel- und Sondereinrichtungen, dieser Anspruch ist eigentlich gelebte Inklusion. Aber der Begriff selbst taucht im Gesetz nicht auf. Das macht es schwieriger für Kitas, die seit Jahren an neuen Konzepten arbeiten.

Jedes Bundesland hat eigene Regeln

Grundsätzlich sei Deutschland bei der Inklusion in den vorschulischen Gruppen verhältnismäßig weit, urteilt die Bertelsmann Stiftung. In ihrer Studie zum Stand der Inklusion im deutschen Bildungswesen, die 2016 erschien, heißt es: „Gemeinsames Lernen und Spielen ist in Kitas bereits weit verbreitet.“ Knapp 70 Prozent der Kinder mit Behinderung, die jünger als sechs Jahre sind, werden demnach inklusiv betreut – Tendenz steigend. Je älter die Kinder werden, desto mehr von ihnen wechseln vom Regel- in ein Sondersystem, entsprechend sinke die Inklusionsquote, so das Fazit des Studienautors und Bildungsforschers Klaus Klemm. Er kritisiert, dass jedes Bundesland eigene Regeln hat und so „der Wohnort über die Teilhabe an Inklusion entscheidet“. Sinnvoll wären einheitliche Standards sowohl für Diagnostik als auch für die inklusive Betreuung der Kinder.

Begriff Inklusion fehlt in vielen Gesetzen

Doch da auch die Kita-Gesetzgebung Landessache ist, bleibt es beim Flickenteppich – fast noch stärker als im Schulbereich, denn die Kitas unterliegen je nach Land dem Zugriff der Bildungs- oder der Sozialministerien. Nicht nur in Schleswig-Holstein fehlt der Begriff „Inklusion“ in den Gesetzen. Teilweise ist von Integration die Rede. Die meisten Länder formulieren einen generellen Anspruch von Kindern auf gemeinsame Betreuung. Im Berliner Kindertagesstättenförderungsgesetz heißt es etwa: „Keinem Kind darf auf Grund der Art und Schwere seiner Behinderung oder seines besonderen Förderungsbedarfs die Aufnahme in eine Tageseinrichtung verwehrt werden.“ Allerdings wird diese Zusage im folgenden Satz abgeschwächt: „In der Regel“ würden Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit anderen gefördert.

Einzig Bayern hat 2018 eine Richtlinie zur „Förderung der Inklusion in der Tagespflege“ erlassen. Ziel soll sein, „im Vorgriff auf eine Gesetzesänderung die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu unterstützen, ein inklusives System der Kindertagespflege aufzubauen“, heißt es auf der Homepage des Bayerischen Familien- und Sozialministeriums. In Thüringen sollen laut Gesetz Kinder mit Behinderungen „inklusiv gefördert“ werden, allerdings auch hier mit der Einschränkung „grundsätzlich“.

„Wir haben die Erfahrung und die Netzwerkpartner. Wie das eine Regel-Kita schaffen soll, weiß ich gar nicht.“ (Jana Barthelmey)

Im Alltag sind die Hürden hoch, auch weil viele Einrichtungen sich gar nicht zutrauen, Kinder mit schwersten und mehrfachen Behinderungen angemessen zu versorgen. Die Eltern von Kindern wie Jannis oder Lotta, die aufgrund kognitiver und körperlicher Behinderungen viel Unterstützung brauchen, stimmen mit den Füßen ab und melden ihre Kleinen in den früheren Förder-Kitas an, schließlich sind hier die Räume barrierefrei und die Spielgeräte behindertengerecht. Vor allem aber gibt es multiprofessionelle Teams mit heil-pädagogisch geschulten Fachkräften. Zwar besuchen durchaus Kinder aus der Nachbarschaft die Kita Preesterbarg. Doch die Kinder mit einer festgestellten Behinderung „kommen per Bus von überall her. Richtig inklusiv ist das nicht“, sagt Jana Barthelmey, Heilpädagogin im Preesterbarg. Allerdings verstehe sie die Eltern: „Wir haben die Erfahrung und die Netzwerkpartner. Wie das eine Regel-Kita schaffen soll, weiß ich gar nicht.“

Unklare Definition

Schwierig ist der Umgang mit der Inklusion bereits deshalb, weil Uneinigkeit darüber herrscht, was der Begriff eigentlich meint. Björn Köhler, im Vorstand der GEW bis Mitte Juni für den Kita-Bereich verantwortlich, erinnert: „In der UN-Behindertenrechtskonvention ist im englischen Text von inclusion die Rede. Das ließe sich mit dem deutschen Begriff Integration übersetzen, aber es gibt den Willen in Deutschland, darüber hinauszugehen.“ Doch Inklusion, wie viele Fachleute sie verstehen, bedeute etwas anderes, als mehr Kinder mit festgestellter Behinderung in die Regel-Einrichtungen zu bringen, betont Köhler: „Integration schaut auf das Kind und will es so unterstützen, dass es am System teilhaben kann. Inklusion meint eine Veränderung des Systems.“ Dabei habe Inklusion „kein festgelegtes Ergebnis, sondern ist ein Prozess“, heißt es im „Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen“, dessen deutschsprachige Fassung die GEW herausgibt.

Bedauerlich findet Köhler, dass im normalen Sprachgebrauch, aber auch in Politik und Verwaltung „Inklusion auf Behinderung reduziert wird. Dabei gibt es viele exkludierende Faktoren, etwa Herkunft, Sprache oder gesellschaftliche Schicht.“

Das Problem: Bis auf wenige Ausnahmen – in Bayern gibt es Geld für Sprachförderung, in Hamburg läuft seit Januar das Programm Kita-Plus, das mehr Personal für Spracherwerb und Alltagsbegleitung bereitstellt – ist aber nur der Faktor Behinderung an eine personelle Unterstützung gebunden: Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf haben individuellen Anspruch auf Teilhabe-Leistungen. „So ein Stempel mag im Verwaltungshandeln notwendig sein“, sagt Köhler. „Doch es widerspricht dem inklusiven Gedanken, Kinder in solche Kategorien aufzuteilen.“

„Mit dem Standard-Fachkraft-Kind-Schlüssel ist das Personal nicht ausreichend.“ (Antje Süchting)

Antje Süchting, Kita-Leiterin in Husum an der Nordsee, arbeitet mit ihrem Team an einer „systemischen Lösung“. Zurück zu den Kleingruppen des heilpädagogischen Systems wolle sie nicht, betont das GEW-Mitglied. „Aber mit dem Standard-Fachkraft-Kind-Schlüssel ist das Personal nicht ausreichend.“ Doch weil der Kreis Nordfriesland ein sogenanntes Sozialraumkonzept verfolgt, können die Träger mit Budgets arbeiten und diese flexibel für die ganze Gruppe einsetzen. „Wir vertreten, dass alle Kinder zu verschiedenen Zeiten einen Bedarf an Förderung haben“, sagt Süchting. Mit Hilfe heilpädagogischer Fachkräfte und Assistenzen sollten „alle Kinder betreut werden, ohne zu fragen, wer welche Diagnose hat“.

Das erfordert eine neue Art zu arbeiten: „Inklusion fällt nicht vom Himmel“, sagt Dunja Dahmke, Kita-Referentin vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein. „Man muss sie entwickeln.“ Aus Sicht des Verbandes solle die Kita ein „atmendes System“ sein, mit flexiblen Lösungen für Personal, Gruppengröße und Extra-Zeiten für Teamentwicklung, Gespräche und Fachberatung.

Auch bei der GEW gehen die Forderungen und Vorschläge in ähnliche Richtungen: Gruppengrößen sollten flexibler gehandhabt werden, etwa um Kindern die ersten Kita-Wochen zu erleichtern. Teams sollten multiprofessioneller und diverser werden. Und ja, das koste Geld, sagt Heiko Frost, Geschäftsführer des Flensburger Vereins Adelby 1. „Aber wenn die Politik das nicht ausgeben will, soll sie es klar sagen.“