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Digitalisierung der Gesellschaft

Projekt der Gegenaufklärung

Was bedeutet es für Demokratie, wenn Privatheit zugunsten totaler Transparenz verschwindet und Menschen in ihren Filterblasen kollektiv voneinander abgesondert werden? „Darüber findet keine Debatte statt“, kritisiert unser „E&W“-Gastautor.

Harald Welzer / Foto: Wolfgang Schmidt

Neulich fragte mich ein Schüler: „Wir wissen doch, dass Internetkommunikation Dopamin-Ausschüttungen verursacht, also die Leute süchtig nach Lob und Beachtung im Netz macht. Wie kann man da auf die Idee kommen, auch noch die Zeit in der Schule so einer Suchtstruktur zu unterwerfen?“ Das konnte ich ihm nicht beantworten – aber recht hat er mit der Frage. Es gibt ja nicht mehr viele Zeiten und Räume, die frei vom Digitalen sind. Unlängst war sogar zu lesen, dass die Zahl der ertrunkenen Kinder in diesem Sommer stark angestiegen ist, weil Mami und Papi sich lieber dem Smartphone widmen, als auf ihre Kinder zu achten.

Dem massiven Druck, der gegenwärtig auf das Bildungssystem ausgeübt wird, in jeder Faser digital zu werden, liegt jedenfalls keine gesellschaftliche Debatte zugrunde – und schon gar keine, die pädagogisch oder entwicklungspsychologisch informiert wäre. Strukturell läuft die Sache so wie bei der viel zitierten Industrie 4.0, die unbedingt eingeführt werden muss, damit man, wie Ex-Staatssekretärin Brigitte Zypries (SPD) einst sagte, „ganz vorn“ ist. Oder wie bei dem berühmten autonom fahrenden Auto, das niemand haben will, für das aber schon eifrig Infrastrukturen eingerichtet werden. Und natürlich stehen längst einige Philosophen in den Startlöchern, um darüber zu befinden, ob das autonome Auto im Zweifel lieber ein Kind oder drei Omas überfährt, wenn es ausweichen muss.

Komisch. Über die flächendeckende Einführung einer Technologie kann man doch eigentlich nur dann befinden, wenn man sagt, welche Gesellschaft man künftig will. Erst von dieser Antwort hängt ja ab, wo und wie Digitalisierung sinnvollerweise eingesetzt werden sollte. Über die gesellschaftliche Bedeutung der Digitalisierung wird allerdings nur insoweit debattiert, wie Fragen des Datenschutzes oder des Arbeitsmarkts damit verbunden sind. Was es für Demokratie bedeutet, wenn Privatheit zugunsten totaler Transparenz verschwindet oder Menschen zunehmend in ihren Filterblasen kollektiv voneinander abgesondert werden, darüber findet keine Debatte statt. Und auch nicht darüber, was der Schüler so richtig fragte.

Eine aufgeklärte Gesellschaft befindet selbst darüber, mit welchem Bildungsauftrag sie nachfolgende Generationen auf die Zukunft vorbereiten will. Und nicht ein Wirtschaftszweig, der vor allem mit Eigenwerbung extrem erfolgreich ist.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass digitale Kommunikation das soziale Miteinander und die Selbstverhältnisse so intensiv verändert hat wie keine andere Technologie in ähnlich kurzer Zeit. Indikatoren dafür sind etwa Filterblasen, Fake News, Verschwörungstheorien oder die Politik der Angst. Angesichts dieser dynamischen Auswirkungen auf die Demokratie kann sich das Bildungssystem nicht indifferent verhalten. Schon gar nicht darf es sich dem Lobbyismus der Internetwirtschaft unterwerfen, dessen Argumente zur Digitalisierung der Schulen und damit auch des Unterrichts völlig inkonsistent sind.

Wie kann man denn bitte auf der einen Seite unablässig behaupten, wie „disruptiv“ digitale Technologie sei – und auf der anderen fordern, ausgerechnet Schulen auf diese auszurichten? Vielleicht ist der ganze Zauber ja so disruptiv, dass er schon in sieben, acht Jahren durch etwas noch Tolleres abgelöst wird. Vielleicht geschieht aber auch schon früher jener große Cyberangriff, der eine Gesellschaft, einschließlich Schulen und Hochschulen, von der Stromzufuhr abschneidet und funktionsunfähig werden lässt.

Ich wage daher die These, dass die Digitalisierung der Gesellschaft ein Projekt der Gegenaufklärung ist – so lange, wie nicht debattiert wird, was für eine Gesellschaft man im 21. Jahrhundert sein will und was es dafür braucht. Denn: Eine aufgeklärte Gesellschaft befindet selbst darüber, mit welchem Bildungsauftrag sie nachfolgende Generationen auf die Zukunft vorbereiten will. Und nicht ein Wirtschaftszweig, der vor allem mit Eigenwerbung extrem erfolgreich ist.