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Ganztag

Mehr Chancengleichheit?

Wenn in der Politik vom schulischen Ganztag die Rede ist, dann wird – neben der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf – immer auch der Abbau von Bildungsbenachteiligung als Vorteil genannt. Aber stimmt das so?

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Ganztagsbetreuung, die freiwillig und möglicherweise kostenpflichtig ist, wird von Familien aus sozial prekären Verhältnissen unter Umständen weniger angefragt. (Foto: mauritius images/SZ Photo Creative/Johannes Simon)

Zunächst muss man sich vor Augen führen, was alles unter dem Begriff „schulischer Ganztag“ verstanden wird. Grob kann man zwischen gebundenen, verpflichtenden Ganztagsschulen und offenen, freiwilligen Betreuungsangeboten unterscheiden. Daneben gibt es noch Angebote in schulischer Verantwortung oder freier Träger. Manche freiwilligen Angebote kosten nichts, für andere müssen die Eltern zahlen.

Daneben gibt es Schulen, die Ganztags- und Halbtagszüge anbieten. Die einzelnen Formen unterscheiden sich in der personellen Ausstattung und den Arbeitsbedingungen. Freiwillige, additive Angebote stehen nicht selten in der Gefahr, prekäre Beschäftigungsbedingungen zu befördern und relativ wenig in das pädagogische Konzept der Schule eingebunden zu sein. Ganztag ist also nicht gleich Ganztag.

Pädagogisches Konzept wichtig

Über die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen hinaus ist aber vor allem das pädagogische Konzept wichtig, wenn es um die Frage der Chancengleichheit geht. Ist das Ganztagsangebot geeignet, allen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von ihrer kulturellen und sozialen Herkunft oder einer Beeinträchtigung, die bestmöglichen Bildungschancen zu eröffnen? Oder einfach gefragt: Wie inklusiv ist der Ganztag?

Ganztagsbetreuung, die freiwillig und möglicherweise kostenpflichtig ist, wird von Familien aus sozial prekären Verhältnissen unter Umständen weniger angefragt. Die fehlende personelle und fachliche Ausstattung lässt es häufig auch nicht zu, dass Kinder mit erhöhtem pädagogischem Bedarf aufgenommen werden. Auch Eingliederungshilfen und Assistenzen werden oft nur für die Dauer der Schulpflicht bewilligt. Insofern sind freiwillige, additive Betreuungsangebote nur bedingt geeignet, Bildungsbenachteiligung abzubauen.

Dramatischer Fachkräftemangel

Aber selbst gebundene Ganztagsschulen, die strukturell eher in der Lage sind, umfassende pädagogische Konzepte umzusetzen, arbeiten nicht alle von vornherein inklusiv. So hat die StEG-Studie (Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen) 2018 festgestellt, dass weniger als die Hälfte der Grund- und Sekundarschulen Inklusion explizit in ihrem Ganztagskonzept verankert hatte. Den meisten Schulen fällt es schwer, Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Ganztag einzubinden.

Besonders schwierig ist dies, wenn emotional-soziale Probleme im Vordergrund stehen. Als größtes Hindernis sieht weit mehr als die Hälfte der Schulleitungen die fehlenden personellen Ressourcen. Der Fachkräftemangel behindert also maßgeblich die Umsetzung eines inklusiven Ganztags.

In einer Zeit, in der der Fachkräftemangel in allen pädagogischen Berufen dramatische Ausmaße erreicht, hat die Große Koalition den Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung im Grundschulalter ab 2025 beschlossen. Finanziert werden soll er über das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII. Das bedeutet: Es handelt sich vorwiegend um ein freiwilliges und additives Betreuungsangebot, das aus Mitteln der Jugendhilfe bezahlt wird.

Da das SGB VIII ein Fachkräftegebot vorsieht, ließe sich auf dieser Grundlage eine gewisse Qualität sicherstellen. Aber befördert dieser rechtliche und organisatorische Rahmen die inklusive Bildung? Da es ein freiwilliges Angebot ist, besteht die Gefahr, dass Eltern, deren Kinder einen erhöhten pädagogischen Bedarf haben, nahegelegt wird, auf ihren Rechtsanspruch zu verzichten.

Alles in allem ist ein Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung im Grundschulalter noch lange nicht automatisch ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit und Inklusion.

Auch die Einbindung des Ganztags in das pädagogische Gesamtkonzept der Schule läuft nicht automatisch. Dafür sind verlässliche Kooperationsstrukturen zwischen der Schule und den Betreuungsangeboten am Nachmittag notwendig. Kooperationszeiten sind aber nicht überall in der Arbeitszeit der Lehrkräfte und sozialpädagogischen Fachkräfte verankert. Auch gemeinsame schulinterne Fortbildungen sind nicht strukturell festgelegt, sie stoßen auch aufgrund einer vielfältigen Trägerstruktur an Grenzen. Alles in allem ist ein Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung im Grundschulalter noch lange nicht automatisch ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit und Inklusion. Der bessere Rahmen für ein Konzept, das alle Kinder und Jugendlichen einschließt, ist der gebundene Ganztag.

Inklusive Angebote nötig

Um aber den Ganztag auf der Grundlage des SGB VIII inklusiver zu machen, müssen bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllt werden, die natürlich auch für jede andere Form des Ganztags gelten:

  • Der Ganztag braucht personelle Ressourcen. Das Fachkräftegebot muss in vollem Umfang umgesetzt werden. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind zu vermeiden. Sie machen die Arbeit im Ganztag unattraktiv. Eingliederungshilfen und Assistenzen für junge Menschen mit Behinderungen müssen über den ganzen Tag zur Verfügung stehen.
  • Feste Kooperationszeiten und -strukturen für alle im Ganztag Beschäftigten sind unabdingbar. Supervision und kollegiale Fallberatung in multiprofessionellen Teams sind vor allem vor dem Hintergrund schwieriger Erziehungssituationen notwendig.
  • Ganztag braucht geeignete Räume: Mensen, Lern- und Freizeiträume. Kinder benötigen die Möglichkeit der Ruhe und des Rückzugs, wenn sie den ganzen Tag in der Schule verbringen sollen. Wirklich inklusiv ist ein Angebot nur dann, wenn es barrierefrei ist.
  • Das pädagogische Personal braucht Räume, beispielsweise Besprechungs- und Arbeitsräume.
  • Einen Rechtsanspruch zu formulieren, ist vergleichsweise einfach. Ihn qualitativ hochwertig umzusetzen, ist dagegen – vor allem vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels – eine große Herausforderung. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die Politik auf der kommunalen sowie auf Bundes- und Länderebene willens und in der Lage ist, ganztägiges Lernen in hoher Qualität für alle Kinder zumindest schrittweise möglich zu machen.