Zum Inhalt springen

Erfahrungen einer Lehrerin und Mutter im Homeoffice

„Mama, ich versteh’ diese blöde Matheaufgabe hier nicht!“

Martina Hagemann ist Mutter – und Lehrerin. Sie ist mit ihrem Mann und zwei Kindern wegen der Corona-Krise im Homeoffice und unterrichtet dabei gleichzeitig ihre Kinder. Kann das gut gehen?

Arbeiten mit Kindern im Homeoffice kann eine große Herausforderung sein (Foto: pixabay.com / CC0).

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung vom Magazin SCHULE zweitveröffentlicht.

„Homeoffice“ – noch vor wenigen Wochen verband ich mit diesem Namen einen Sehnsuchtsort. Immer, wenn mir im Klassenraum eine lärmende Schülerschar auf die Nerven ging, sah ich den Ort meiner Träume vor mir: ein kleines Büro für mich allein, Stille, konzentriertes Arbeiten und die Freiheit, meine Pausen so zu legen, wie es mir gefällt. Seit einigen Tagen nun arbeite ich tatsächlich im Homeoffice (ehemals Esszimmer). Mit mir gemeinsam drei weitere Mitarbeiter: zwei ehemalige Grundschulbesucher der 1. und 4. Klasse und ein weiterer Gymnasiallehrer in Heimarbeit. An zwei Computern. Mit vier verschiedenen Arbeitsaufträgen. Und unterschiedlicher Konzentrationsspanne.

In unserem Büro haben wir, also genau genommen eher die beiden Bürochefs, einen festen Zeitplan vereinbart: Zwischen 9 und 12 Uhr ist Schule, danach beginnt die Freizeit. Quasi schulische Kurzarbeit. Ich muss in dieser Zeit meine Schülerinnen und Schüler per E-Mail und über ein virtuelles Klassenzimmer mit Aufgaben versorgen, eingehende Rückfragen beantworten, im Idealfall Lösungen korrigieren und nebenbei meine geplante Klassenfahrt für Mai diesen Jahres stornieren. Meine Kinder sollen in derselben Zeit ihre Arbeitsblätter, die sie ebenfalls per E-Mail oder noch in der Schule erhalten haben, bearbeiten. Selbstständig. Und in Stillarbeit. Beides ist meinen Kindern fremd.

„Mama, ich versteh’ diese blöde Matheaufgabe hier nicht!“

Schon nach zwei Minuten tönt es aus dem Esszimmerbüro: „Mama, ich versteh’ diese blöde Matheaufgabe hier nicht!“ Ich versuche es mit Zeitaufschub: „Ich komme gleich, ich muss nur mal eben einen Arbeitsauftrag für meine 5. Klasse ins virtuelle Klassenzimmer hochladen.“ Mein Sohn hingegen versucht es mit beharrlichem Quengeln: „Ich brauche aber jetzt deine Hilfe.“ Wenn mein Sohn „jetzt“ sagt, meint er auch „jetzt“. Da ist er leider weit entfernt von den Fähigkeiten, die Viertklässler eigentlich so beherrschen sollten: Geduld, sich-zurücknehmen-Können, Frustrationstoleranz. Er hat Glück, der Server ist gerade überlastet. Neben mir und meinen 70 Kollegen wollen vermutlich auch alle knapp 1.000 Schülerinnen und Schüler unserer Schule auf dieselbe Seite.

„Ich kapier’ nicht, was ein Divisor ist. Wozu braucht man das überhaupt?“

So kann ich ohnehin nicht arbeiten und mich daher ganz meiner Rolle als Hauslehrerin widmen: „Zeig mal her, Jonas, was verstehst du denn nicht?“ Jonas schiebt mir genervt sein Matheheft hin, als wäre es meine Schuld, dass er, erstens, diese Aufgaben überhaupt machen muss und sie, zweitens, nicht versteht: „Ich kapier’ nicht, was ein Divisor ist. Wozu braucht man das überhaupt?“ Es ist kurz nach 9 Uhr, ich bin noch voller Geduld: „Also, mein Sohn, wie schön, dass deine Mutter Mathelehrerin ist, oder? Ein Divisor ist die Zahl ...“ Weiter komme ich nicht. Meine Tochter hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und ruft: „Mama, du hast doch gesagt, ich soll dir jetzt vorlesen.“ Warum müssen Erstleser ihren Eltern die Texte eigentlich immer laut vorlesen? Reicht es nicht, wenn sie diese leise vor sich hinmurmeln? Und natürlich beherrscht meine Erstklässlerin die Kunst des Wartens noch viel weniger als ihr großer Bruder.

Ich vertröste sie ein wenig unwirsch: „Nicht jetzt, gleich, hab’ ich gesagt. Also, Jonas, noch mal, ein Divisor ...“ Weiter komme ich mit meiner Erklärung auch dieses Mal nicht. Mein Mann ruft aus seinem Arbeitszimmer (Warum hat er eigentlich ein Büro für sich allein, während ich mir meins mit den beiden Juniorassistenten teilen muss?): „Schatz, kommst du gerade ins Internet? Ich muss noch eine Yogaübung für meine Schülerinnen und Schüler auf die interne Schulhomepage stellen.“ Bisher hatte ich meinen Mann mit seinem Fach Sport immer ein wenig beneidet. Einen Ball in die Mitte Werfen funktioniert schließlich immer. Nur geht das gerade nicht mehr. Gemeinsamer Sport ist tabu, weder in der Schule noch als Anregung für die Freizeit. Also arbeiten sich die Sportlehrer in Individualsport fürs Wohnzimmer ein, da ist Yoga ein guter Anfang. Ob er dem Bewegungsdrang von Teenagern gerecht wird, wage ich zu bezweifeln. Da bin ich fast froh, dass man in Mathe doch immer etwas rechnen, wiederholen und auch mal online üben kann. Auch Hilfestellungen und das Kontrollieren von Schülerlösungen gestaltet sich bei gutem Mailkontakt leicht. Aber wie prüft man als Sportlehrer, ob die Yogaübung auch korrekt ausgeführt wurde? Egal. Die Unterrichtszeit im Homeoffice bleibt – ein Trost für alle elterlichen Heimlehrer im coronalen Quereinstieg – benotungsfrei.

„Maaamaaa! Ich will jetzt lesen.“

Während ich darüber nachdenke, ob mein Mann oder ich die besseren Fächer gewählt haben, hat mein Sohn sich schon entschieden: „Mama, du musst mir das mit dem Divisor doch nicht erklären. Ich mach lieber erst Deutsch statt Mathe.“ Das wiederum kränkt meinen Lehrerehrgeiz: „Warte mal, ich kann dir das doch erklären.“ Kann ich nicht. Schließlich wartet Lotte schon seit ca. einer Minute auf dem Sofa auf mich: „Maaamaaa! Ich will jetzt lesen.“ Wenn mein Sohn mein mathematisches Fachwissen ohnehin nicht möchte, kann ich auch als Zuhörerin fungieren. Eigentlich ein einfacher Job, wenn man nicht aufgrund des langsamen Gestammels Gefahr läuft einzuschlafen. „Ok, Lotte, komm her. Hast du das Buch schon geholt?“ Natürlich hat Lotte das Buch nicht geholt. So ganz klappt es noch nicht mit dem Rollenwechsel von der Tochter zur Schülerin. In der Schule läge das Buch jetzt eigenhändig von Lotte bereitgelegt auf ihrem Platz. Zu Hause erwartet sie den üblichen Mutterservice: „Kannst du das nicht machen? Och bitte, Mama.“ Ich wäge kurz ab, ob ich einen Streit darüber ertrage, dass auch Erstklässler bereits in der Lage sind, ihr Material parat zu haben. Dann hole ich das Buch.

„Frag Papa, der unterrichtet doch eine Sprache, der muss das wissen.“

Bevor ich wieder bei meiner Tochter angekommen bin, unterbricht mich mein Sohn: „Mama, was ist eine Grundform?“ Zum Glück bin ich da raus: „Eine was? Frag Papa, der unterrichtet doch eine Sprache, der muss das wissen.“ Scheinbar war ich bereits zweite Wahl: „Den hab’ ich schon gefragt. Papa sagt, er wartet darauf, dass das Internet wieder geht.“ Wenn man es einmal wirklich braucht. Und kein hilfsbereiter Informatikkollege in Sicht, der einen zwar kurz mitleidig anlächelt, Fehlermeldung 124/34 dann aber sofort behebt. Ich will wieder in die Schule! Mein Sohn auch: „Meine Lehrer haben wenigstens Zeit, uns was zu erklären.“ Und vermutlich auch mehr Erfahrung mit Binnendifferenzierung als ich. Mich jedenfalls überfordern bereits zwei Schüler auf unterschiedlichem Leistungsniveau.

„So, Kinder, wir machen jetzt große Pause.“

Und wo habe ich jetzt Lottes Buch hingelegt? Ich finde es auf dem nicht abgeräumten Frühstückstisch und zeige es triumphierend meiner Tochter, die nach wie vor auf dem Sofa thront: „So, Lotte, jetzt können wir lesen, ich hab das Buch geholt.“ Lotte schaut entsetzt: „Das Buch meinte ich aber nicht. Das andere. Das mit dem Delfin vorne drauf.“ Scheinbar kann meine Tochter nur Delfingeschichten lesen, nicht aber Katzengeschichten. Muss ich mal mit ihrer Deutschlehrerin besprechen. Vielleicht schreibe ich ihr kurz eine Mail? Sicherlich langweilt sie sich zu Hause schon aufgrund der unerwarteten „Coronaferien“. Ich komme aber nicht an meinen Rechner. Da sitzt mittlerweile mein Sohn und schießt mit Kanonen richtige Matheergebnisse ab. Meinen erstaunten Blick kann er nicht nachvollziehen: „Die Lehrerin hat gesagt, wir sollen auch im Internet Matheaufgaben lösen.“ Ich sollte auch seiner Lehrerin eine E-Mail schicken. Ob sie wirklich meint, dass ein Piratenspiel im Zahlenraum bis 20 eine Mathestunde eines Viertklässlers ersetzen kann? Lotte kommt um die Ecke: „He, das ist voll fies! Warum ist Jonas am Computer? Du hast gestern gesagt, dass ich da heute zuerst Schulaufgaben machen darf.“ Ich schaue auf die Uhr, seit dem Frühstück ist bereits eine Stunde vergangen: „So, Kinder, wir machen jetzt große Pause.“

Wie war das doch gleich mit dem Wunsch nach einem Homeoffice? Oft ist die Sehnsucht viel schöner als ihre Erfüllung.