Zum Inhalt springen

Jugendhilfe

„Löst nicht das Armutsproblem“

Der Duisburger Verein „Tausche Bildung für Wohnen“ fördert Kinder aus bedürftigen Familien. Dafür bekommt er viel Lob. Die GEW weist derweil darauf hin: Das Projekt liefere „keine grundsätzliche Lösung für das Armutsproblem in unserer Gesellschaft“.

TBFW-Standortleiterin Anna-Sophie Hippke / Foto: Dirk Krüll

„Ich war auf der Suche nach einer Wohnung“, erzählt Hannah Bröker. Dann habe sie im Radio von dem Duisburger Projekt gehört. „Das passte ganz gut.“ Heute wohnt die 22-jährige Studentin mietfrei in einem WG-Zimmer. Im Gegenzug erteilt sie kostenlos Lernförderung für Schülerinnen und Schüler – ein Jahr lang, acht Stunden pro Woche.

Bröker arbeitet für den Duisburger Verein „Tausche Bildung für Wohnen e. V.“ (TBFW). Gestartet 2014, kümmert er sich laut Selbstdarstellung um „benachteiligte Kinder“ im Duisburger Problem-Stadtteil Marxloh. 50 Mädchen und Jungen zwischen sechs und 14 Jahren kommen zweimal in der Woche zu TBFW, um Hausaufgaben zu machen, Deutsch zu lernen, zu spielen und -gemeinsam zu kochen. Betreut werden sie von neun „Bildungspaten“. Sechs absolvieren in Vollzeit ihren Bundesfreiwilligendienst. Drei arbeiten jeweils acht Stunden pro Woche, zum Ausgleich dürfen sie mietfrei in Marxloh wohnen.

Duisburg, die ehemalige Stahlarbeiterstadt: 500.000 Einwohner, viele Geflüchtete, dazu Einwanderer aus Südosteuropa. Der Kreissozialindex Duisburgs – er steigt mit der Arbeitslosen- und Sozialhilfequote – liegt bei 87,8. Das ist der dritthöchste Wert in Nordrhein-Westfalen (NRW). Rund 22.000 Kinder, die jünger als 15 Jahre sind, lebten 2016 laut einer Duisburger Studie in Familien, die auf Hartz IV angewiesen waren. Im Sommer 2018 schlugen die Schulleitungen von sechs Marxloher Schulen Alarm: Es fehle an Räumen und Schulsozialarbeiterinnen, Integrationshelfern, Dolmetscherinnen. Der GEW-Landesverband NRW verweist zudem auf den Lehrkräftemangel: Ende August 2018 konnten allein an Duisburgs Grundschulen 100 Stellen nicht besetzt werden.

„Nachhilfe-Erfahrung muss nicht vorhanden sein.“ (Anna-Sophie Hippke)

Donnerstag, 16 Uhr. Neun Kinder tummeln sich in den Räumen des Vereins, einer ehemaligen Sechs-Zimmer-Wohnung mit gemütlichem Sofa, Bücherregal, Flipcharts, Wandtafeln, TV-Monitor und Küche. Bildungspate Imad Soliman zieht sich mit vier Jungs ins Kickerzimmer zurück. „Wir machen heute Silbentrennung“, sagt der 29-Jährige, der ein Masterstudium in Elektrotechnik absolviert. Bachar, 13 Jahre, kommt aus Syrien und geht in die 5. Klasse. Er beugt sich über sein Arbeitsblatt. Darauf stehen Substantive, die sich silbenweise aufbauen – bis sie Wörter wie „Hundehütteneingangstür“ ergeben. Wie lange er schon zur Nachhilfe kommt, fragt der Besucher. Bachar versteht nicht. Pate Soliman, der ägyptische Wurzeln hat, übersetzt auf Arabisch. „Das zweite Mal“, antwortet Bachar auf Deutsch. Wie lange er in Deutschland sei? „Ein Jahr, acht Monate.“

Wie werden die Bildungspaten ausgebildet? „Nachhilfe-Erfahrung muss nicht vorhanden sein“, sagt Anna-Sophie Hippke, die als Standortleiterin beim Verein angestellt ist. Wichtig sei „das Interesse, sich zu engagieren“, so die 29-Jährige. Jede Patin und jeder Pate absolviere zunächst eine vierwöchige Qualifizierung. Während des Einsatzes, der zumeist ein Jahr dauert, gebe es Weiterbildung, etwa ein Antirassismus-Training.

Der Standort Marxloh koste 200.000 Euro im Jahr, sagt Hippke. Die Finanzierung stehe auf drei Säulen: erstens das „Bildungs- und Teilhabepaket“ des Bundes, das Nachhilfe für Kinder aus Familien mit Transferleistungen, vor allem Hartz-IV-Empfänger, bezuschusst. Zweitens Gelder von Stiftungen und Spendern. Drittens „Unternehmen, die einen Paten jeweils für ein Jahr finanzieren“. Zu den Förderern zählen Deutsche Bank, die international tätige Anwaltskanzlei Latham & Watkins, Vodafone-Stiftung Deutschland, Gelsenwasser-Stiftung, Aktion Mensch, Bundeszentrale für politische Bildung, Europäische Union. Die Duisburger Kirchengemeinde St. Norbert stellt dem Verein die Sechs-Zimmer-Wohnung in Marxloh zur Verfügung. „Mietfrei, für fünf Jahre“, berichtet Hippke.

 

„Kein Ersatz für Lehrkräfte“

Der Verein habe Erfolg, sagt die Standortleiterin. Zwar gebe es noch keine professionelle Evaluierung, „doch wir sehen, dass die Kinder glücklich sind“, betont die 29-Jährige. „Gestern erzählte ein Junge, dass er eine ,2‘ im Mathetest hat.“ Lehrkräfte berichteten, dass betreute Schülerinnen und Schüler an Selbstbewusstsein gewonnen hätten. „Auch die Rücksprache mit den Eltern ist positiv.“ Kürzlich erhielt der Verein den „Deutschen Nachbarschaftspreis 2018“, verliehen von der nebenan.de-Stiftung. TBFW bringe „ganz unterschiedliche Menschen im Viertel zusammen“, lobte Markus Lewe vom Deutschen Städtetag, der zur Jury des Preises gehört. „Sie treffen sich, lernen sich kennen und tauschen sich aus – über Milieugrenzen hinweg.“

Seit November 2018 arbeitet der Verein auch in Gelsenkirchen. Schier überwältigend ist das Medienecho: WDR, ZDF, SAT.1, Deutsche Welle, Spiegel Online, sueddeutsche.de, die Ruhrgebietsblätter WAZ und NRZ – sie alle fanden schon lobende Worte. „Bei den Helden von Marxloh“, titelte etwa die ZEIT.

Doch warum soll eine Vier-Wochen-Ausbildung plus diverse Coachings ausreichen, um benachteiligte Schülerinnen und Schüler qualifiziert zu betreuen? Und: Rüdiger Wüllner, Vorstandsmitglied der GEW Duisburg, schätzt, dass rund 25 Grundschulen in Stadtteilen „mit deutlich mehr Sozialgeldbezug“ zu finden seien. „Dort werden rund 6.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet.“ Der Bedarf an Unterstützung ist auch hier riesig.

Anne Sommer, Pressesprecherin des TBFW, verteidigt das Konzept: „Erfahrene Trainerinnen und Trainer“ vermittelten „wichtige Werkzeuge“, etwa „Diagnose, Lernziele, Klassenmanagement“. Die Coachings würden helfen, Patinnen und Paten „in ihrer Entwicklung zu fördern“. Sowohl in Duisburg als auch in Gelsenkirchen wachse der Verein. Allerdings könne und wolle man „kein Ersatz für Lehrkräfte sein“, unterstreicht die Pressesprecherin.

„Die GEW NRW fordert, dass das Land Schulen an benachteiligten Standorten deutlich besser ausstattet.“ (Dorothea Schäfer)

Dorothea Schäfer, GEW-Vorsitzende in NRW, sieht die Sache differenziert. Das Projekt sei „ein gutes Angebot für benachteiligte Kinder“. Die jungen Bildungspatinnen und -paten profitierten ebenfalls, nicht nur durch mietfreies Wohnen, sondern „auch für ihre eigene Erfahrungswelt“. Allerdings: Das Vorhaben sei „nur ein Tropfen auf den heißen Stein“. Es liefere „keine grundsätzliche Lösung für das Armutsproblem in unserer Gesellschaft“. Schäfer sieht staatliche Stellen in der Pflicht: „Die GEW NRW fordert, dass das Land Schulen an benachteiligten Standorten deutlich besser ausstattet.“ Es gelte vor allem, die „schwierige Situation der Stellenbesetzung“ zu lösen. Schäfer richtet auch einen Appell an die privaten Geldgeber von TBFW: „Gut wäre es, wenn sie sich beteiligen würden, den Druck auf die Landesregierung zu verstärken.“

An Duisburger Schulen sind weitere, von Stiftungen und Unternehmen geförderte Initiativen tätig. Der Verein Chancenwerk bietet Lernförderung und arbeitet an neun Schulen. Apeiros e. V. versucht an 20 Schulen, Schulverweigerung zu reduzieren. Teach First Deutschland vermittelte 13 Hochschulabsolventen an Brennpunktschulen, um Lehrkräfte zu unterstützen.

Arbeiterwohlfahrt und Diakonie haben jeweils eine Stelle eingerichtet, um Mobbing und Gewalt einzudämmen – im Rahmen des Projekts „Respekt Coaches“, finanziert vom Bundesfamilienministerium. Aber auch diese Angebote erreichen nur einen kleinen Teil der Schülerinnen und Schüler. Die nordrhein-westfälische Landesregierung steht weiter in der Pflicht. Sie muss dafür sorgen, dass vor allem Schulen in ärmeren Wohnquartieren mehr Lehrkräfte und zusätzliches Fachpersonal erhalten.