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Projekt TraMiS

Lernen in vielen Sprachen

Für einige Schülerinnen und Schüler ist ein Leben im Ausland eine Option – für kurze Zeit oder auf Dauer. Wie Schulen mit transnationaler Mobilität umgehen, erforscht das Projekt TraMiS (Transnationale Mobilität in Schulen) an der Universität Bremen.

Nach wie vor ist das deutsche Schulsystem auf zugewanderte Kinder und Jugendliche nur unzureichend eingestellt. Vor allem bei der Anerkennung sprachlicher Fähigkeiten und Leistungen in der Herkunftssprache gibt es Reformbedarf. (Foto: Pixabay/stokpic)

E&W sprach mit Dita Vogel, Senior Researcher im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung an der Uni Bremen und Teil des TraMiS-Leitungsteams.

  • E&W: Sie haben in einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Transnationale Mobilität in Schulen“ untersucht. Was kann man sich unter diesem Begriff vorstellen?

Dita Vogel: Für Schülerinnen und Schüler in Deutschland ist ein Leben im Ausland heute eine realistische Option. Sei es für kurze Zeit, etwa im Rahmen eines Austauschprojektes, sei es für immer oder auch notgedrungen – wenn beispielsweise nach einer Flucht kein dauerhaftes Bleiberecht gewährt wird. Wir haben gefragt, wie Schulen mit Zukunftsperspektiven umgehen, die nicht auf Deutschland beschränkt sind, und wo sie Verbesserungsbedarf sehen.

  • E&W: Für das Projekt TraMiS wurden zwölf Schulen als Kooperationspartnerinnen ausgewählt. Was hat die Einrichtungen unterschieden, worin bestanden die Gemeinsamkeiten beim Umgang mit Zuwanderung und Sprachenerwerb?

Vogel: Die Einrichtungen sind in der Tat sehr unterschiedlich. Wir haben Schulen mit hohem und niedrigem Anteil an Zugewanderten ausgewählt, Schulen in großen und kleinen Städten, private und öffentliche Schulen, Schulen mit und ohne mehrsprachige Bildungsgänge. Gemeinsam ist allen, dass sie sich mit Engagement auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einstellen. Deshalb konnten wir viel aus den Interviews mit Schulleitungen, Lehrkräften und Eltern lernen und auch durch Projekte, die in den Schulen mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt wurden.

  • E&W: Zugewanderte Jugendliche verlassen in Deutschland häufiger als Gleichaltrige ohne Zuwanderungsgeschichte die Schule ohne Abschluss und erreichen seltener einen höheren Bildungsabschluss. Hat das Projekt TraMiS eine Antwort darauf gefunden, wie dieses Problem gelöst werden kann?

Vogel: Es ist erstaunlich, wie wenig Forschung es in Deutschland zum Einfluss der Aufnahmebedingungen auf den Schulerfolg gibt. Unser Projekt, in dem wir qualitativ arbeiten, hat deutlich auf die Problematik von Zugewanderten hingewiesen, die erst im Schulalter oder später als Jugendliche zugewandert sind. Sie werden in den meisten Schulen systematisch benachteiligt, weil die Prüfung von Fach- und Deutschkenntnissen nicht getrennt wird. In den meisten Fächern wie den Naturwissenschaften werden bereits im Herkunftsland erworbene Fachkenntnisse nur wahrgenommen, wenn sie in einem guten Deutsch vorgetragen werden. Das ist einer der demotivierenden Faktoren, die letztlich zu schlechteren Schulleistungen und -abschlüssen führen.

  • E&W: Wäre ein Fachunterricht in der Herkunftssprache eine Alternative?

Vogel: Ja, es ist durchaus denkbar, dass Unterricht zum Beispiel in Fächern wie Mathematik oder in den Naturwissenschaften in der Einstiegsphase, in der die Lernenden noch keine guten Deutschkenntnisse haben, in der Herkunftssprache erfolgt. Das ist nicht einfach zu realisieren, aber auch die Ermutigung zur Nutzung von Lehrbüchern und Online-Ressourcen in Herkunftssprachen kann dazu beitragen, dass sich Jugendliche Zusammenhänge besser erarbeiten können, auch wenn sie dann auf Deutsch abgefragt werden.

  • E&W: Welche Empfehlungen leiten Sie aus den Ergebnissen des Forschungsprojekts für die Schulpraxis ab?

Vogel: Wir haben in unserem Forschungs- und Entwicklungsprojekt fünf Impulse mit Vorschlägen für Bildungspolitik und Schulentwicklung veröffentlicht – zum Sprachenlernen in der Schule, zur Aufnahme neu Zugewanderter, zum Einfluss von Wissen und der Haltung von Lehrkräften, zur multiprofessionellen und multilingualen Erweiterung von Kollegien und zur Horizonterweiterung durch Auslandsaufenthalte. Mit Blick auf die Aufnahme Zugewanderter schlagen wir durch ausländische Erfahrungen angeregte Modellversuche vor. Ein schwedisches Modell mit einer mehrsprachigen Kompetenzermittlung zum Einstieg, einem kurzen Schwedischkurs, langfristigem Unterricht in Schwedisch als Zweitsprache und bilingualen Lernbegleitungen liefert Anregungen dafür, wie vor allem die Integration Jüngerer besser gelingen könnte. Bei im Jugendalter Zugewanderten sollten auch Modellversuche mit spezialisierten Klassen nach dem Vorbild des International Network for Public Schools in den USA durchgeführt werden. Diese Netzwerkschulen haben zugewanderte Jugendliche mit schlechten Startbedingungen beispielsweise in der Bronx in New York überdurchschnittlich oft zu einem qualifizierten Abschluss geführt.

  • E&W: Und was sollte sich für Kinder und Jugendliche ändern, die von Anfang an in Deutschland zur Schule gegangen sind?

Vogel: Wir brauchen einen anderen Umgang mit Sprachenkenntnissen und Sprachenfächern in der Schule. Wer eine Sprache sowohl mündlich als auch schriftlich auf dem Niveau beherrscht, das derzeit für die „zweiten Fremdsprachen“ verlangt wird, sollte einen Rechtsanspruch darauf haben, dies nachweisen zu dürfen. Bisher muss er oder sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eine weitere Sprache in der Schule lernen, um das Abitur machen zu dürfen, auch wenn drei Sprachen schon gut beherrscht werden. Gleiche Kompetenzen sollten aber gleich viel für den Schulabschluss zählen. Wer zum Beispiel gute Polnisch- oder Türkisch-, Tamilisch- oder Lettischkenntnisse bei den Eltern oder in einer Sonntagsschule erworben hat, sollte ein Recht auf Prüfung erhalten. Dieser Vorschlag wurde bereits in Fachwissenschaften diskutiert und wird jetzt auch der Kultusministerkonferenz vorgelegt.

  • E&W: Viele Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien beherrschen die Familiensprache allerdings nur unzureichend. Was ist mit ihnen?

Vogel: Natürlich gibt es auch viele Schülerinnen und Schüler, die eine in der Familie gesprochene Sprache nur mündlich einigermaßen beherrschen. Bisher können sie bestenfalls einen Unterricht in der Herkunftssprache besuchen, üblicherweise in Randstunden am anderen Ende der Stadt. Für diese Leistung erhalten sie dann eine Bemerkung im Zeugnis. Sie sollten stattdessen jedoch in der Schule die Gelegenheit bekommen, ihre Kenntnisse auszubauen – wenn nötig im Online-Unterricht.

  • E&W: Schule und Bildungspolitik sind bislang darauf fokussiert, die Integration von Migrantinnen und Migranten voranzutreiben, indem diese so schnell wie möglich Deutsch lernen; die Pflege der Herkunftssprache wird als integrationshemmend betrachtet. Steht Ihr Modell der Integration entgegen?

Vogel: Keineswegs. In der Forschung ist die Annahme, dass das Lernen einer Herkunftssprache integrationshemmend ist, schon lange widerlegt. Wer in Deutschland aufgewachsen ist und in der Schule Englisch und Französisch gelernt hat, gilt deswegen ja auch nicht als schlecht integriert, sondern gut darauf vorbereitet, in der exportorientierten deutschen Wirtschaft oder den international vernetzten Hochschulen zu arbeiten. Warum sollten Jugendliche schlecht integriert sein, wenn sie Deutsch, Englisch und Türkisch beherrschen? Wenn die vielen Sprachen, die Kinder und Jugendliche von Hause aus mitbringen, in der Schule ausgebaut werden und eine nicht nur symbolische, sondern zeugnisrelevante Wertschätzung erfahren, ist das nicht nur für sie selbst, sondern auch gesellschaftlich und wirtschaftlich vorteilhaft.

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt TraMiS ist Ende April abgeschlossen worden. Gefördert wurde es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und beratend unterstützt durch die GEW sowie die Freudenberg Stiftung.