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Lehrkräftemangel: Kopfloses Headhunting

In Hamburg sind über Jahre zu wenige Lehrkräfte ausgebildet worden. Laut Schulbehörde fehlen 200 Lehrkräfte in Vollzeit. Der Fachkräftemangel trifft besonders Schulen in sozial belasteten Stadtvierteln und Grundschulen.

Stadtteilschule Mümmelmannsberg in Hamburg, Foto: Wolfgang Huppertz.

Joachim Ninow blickt vom Bildschirm auf. Jeden Morgen durchkämmt der Leiter der Grundschule Mümmelmannsberg die Stellenportale nach einer Lehrkraft für Mathematik. Es gebe „nicht eine ernst zu nehmende Bewerbung“, sagt er, „man gerät unter Druck.“ Die Schule ist kein Einzelfall: Zu dem Einstellungstermin Anfang Februar konnten 225 Stellen in der Hansestadt nicht besetzt werden. „Der Lehrkräftemangel erreicht Hamburg nun offiziell“, sagt die GEW-Landesvorsitzende Anja Bensinger-Stolze. Und zwar nicht nur in den Mangelfächern im naturwissenschaftlichen Bereich; gesucht werden auch Fachkräfte für Englisch, Deutsch, Geschichte oder Religion. Die Schulbehörde geht davon aus, dass 1,6 Prozent aller Stellen nicht besetzt sind. Damit fehlen in Hamburg 200 Lehrkräfte in Vollzeit. Alarmierend sei, dass „besonders Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen Schwierigkeiten haben, an Personal zu kommen“. Betroffen sind in erster Linie Grundschulen.

Mümmelmannsberg etwa ist eine auf dem Reißbrett entworfene Großsiedlung im Hamburger Osten, hochgezogen in den 1970er-Jahren. Rund 17.000 Menschen leben hier, darunter viele Zugewanderte. Drei von vier Kindern, die jünger als 18 Jahre sind, haben einen Migrationshintergrund. Jeder dritte Haushalt ist alleinerziehend und nahezu jedes zweite Kind lebt von Hartz IV. „Unsere Schülerinnen und Schüler sind nicht von Armut bedroht, sie sind arm“, stellt Schulleiter Ninow fest. „Wir beobachten einen Anstieg der Bildungsarmut.“ Die soziale Entmischung Hamburgs – forciert durch die stark steigenden Mieten in den innerstädtischen Gebieten und die Vertreibung derer, die sich dies nicht leisten können – führe zu steigenden Herausforderungen in den sozialen Brennpunkten. So werde es zunehmend schwieriger, den Kindern mit ihrem hohen Bedarf an Sprach-, sozial- und sonderpädagogischer Förderung gerecht zu werden. Die Hamburger Schulbehörde kennzeichnet 54 Schulstandorte als sozial belastet – das ist ein Viertel aller staatlichen Grundschulen oder Grundschulabteilungen von Stadtteilschulen.

Dass diese Standorte nun besonders stark vom Lehrkräftemangel betroffen sind, hat seine Ursachen im Konzept der selbstverantworteten Schulen (SvS), das ihnen seit dem Jahr 2006 weitgehende Personalhoheit zugesteht. Bis vor wenigen Jahren „hatten auch Schulen an sozialen Brennpunkten ausreichend Bewerber mit sehr guten Abschlüssen“, berichtet Ninow. Das Personal wurde nicht zentral zugewiesen, sondern sein Team konnte sich selbst ein „junges, sehr qualifiziertes und engagiertes Kollegium zusammenstellen“ – und so den Generationswechsel gestalten. Das ist heute anders: Schulen in sozialen Brennpunkten stehen in direkter Konkurrenz zu Schulen in attraktiven, innerstädtischen Wohnlagen und einer Schülerschaft aus bildungsaffinen Familien um immer weniger Bewerberinnen und Bewerber – und ziehen häufiger den Kürzeren. Dabei gehe es zu „wie im Haifischbecken“, so Ninow. Bensinger-Stolze spricht von einer „Benachteiligung der Benachteiligten“.

„Die Stadt hat mit ihrer Attraktivität und dem Versprechen auf schnelle Verbeamtung anderen Bundesländern die Lehrkräfte regelrecht abgejagt“, sagt Bensinger-Stolze. „Das funktioniert nicht mehr, seit die ersten Bundesländer ihre Besoldung anheben.“

Für die GEW kommt der Fachkräftemangel indes nicht überraschend. „Hamburg hat es verschlafen, ausreichend Lehrkräfte auszubilden, um die Unterrichtsversorgung trotz der Pensionswelle und gleichzeitig steigender Schülerzahlen sicherzustellen“, kritisiert die Landesvorsitzende. Laut Statistiken der Kultusministerkonferenz wurden von 2012 bis 2016 rund 5.300 Lehrkräfte in Hamburgs allgemeinbildenden Schulen eingestellt, aber nur gut die Hälfte auch im Land ausgebildet. Dazu kamen große Schulreformen wie die Einführung des Ganztags, die Inklusion und eine Verkleinerung der Klassen sowie die Einrichtung von Flüchtlingsklassen: Die Zahl der Vollzeitstellen an allgemeinbildenden Schulen stieg seit 2010 von 11.300 auf 13.600. „Die Stadt hat mit ihrer Attraktivität und dem Versprechen auf schnelle Verbeamtung anderen Bundesländern die Lehrkräfte regelrecht abgejagt“, sagt Bensinger-Stolze. „Das funktioniert nicht mehr, seit die ersten Bundesländer ihre Besoldung anheben.“

Als zu niedrig kritisiert sie die vom Senat angekündigte Aufstockung der Referendariatsplätze um insgesamt 135 auf 685 in den kommenden zwei Jahren. Das allein werde angesichts wachsender Schülerzahlen kaum reichen: Bereits heute besuchen mit 176.600 Schülerinnen und Schülern rund 12.000 mehr als vor fünf Jahren die staatlichen allgemeinbilden Schulen der Hansestadt; laut Hamburger Bildungsbericht wird bis zum Jahr 2030 ein Anstieg um weitere elf Prozent erwartet. Zudem hat die Schulbehörde mit den von der GEW unterstützten Initiatorinnen und Initiatoren der Volksinitiative „Gute Inklusion“ ausgehandelt, in den kommenden zwei Jahren 295 zusätzliche Lehrkräftestellen zu schaffen.

Mit einer neuen Stelle für die Inklusion rechnet Jochen Grob, Leiter der Ganztagsschule Fährstraße in Wilhelmsburg, einem Stadtteil südlich der Elbe mit ähnlichen Sozialdaten wie Mümmelmannsberg. Wie er die besetzen soll, daran mag er noch nicht denken angesichts der vier unbesetzten Stellen zum Schulhalbjahr. Seit anderthalb Jahren sucht er einen Sonderpädagogen und nun sind zusätzlich drei Kolleginnen längerfristig erkrankt. Auf seine Ausschreibungen in den einschlägigen Portalen erhielt er keine einzige Bewerbung. Immer häufiger gilt es, Lücken zu füllen, wenn Kolleginnen oder Kollegen länger krank sind oder in Mutterschutz oder Elternzeit gehen. Bleibt die Personalsuche erfolglos, stellt Grob Vertretungskräfte über befristete Lehraufträge ein, meist angehende Lehrkräfte, die auf einen Platz im Vorbereitungsdienst warten. Diese sind mittlerweile an der Ganztagsschule Fährstraße unverzichtbar: Bis zu sechs Lehraufträge vergibt er pro Schuljahr, um alle Unterrichtsvorgaben abzudecken.

Unter dem Fachkräftemangel leiden auch Stadtteilschulen wie die Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg. Schulleiter Bodo Giese sieht sich im Wettbewerb um qualifizierte Lehrkräfte einem weiteren Konkurrenten ausgesetzt: dem Gymnasium. Für viele Kolleginnen und Kollegen sei es attraktiver, dort zu arbeiten, stellt er fest: „Wir Stadtteilschulen tragen die Inklusion fast alleine, zudem ist unsere Schülerschaft durchschnittlich weniger leistungsfähig.“ Er sucht händeringend Unterstützung in den Fächern Biologie sowie Naturwissenschaft und Technik. Zwei Englisch-Kollegen bleiben über ihr Pensionsalter hinaus, darüber ist er sehr froh. Auch Giese stellt für die Vertretungsstellen angehende Lehrkräfte ein, die auf ihren Vorbereitungsdienst warten. Das sei ohnehin ein erfolgversprechender Weg, um gute und engagierte Leute früh an die Schule zu binden. Seiteneinsteiger habe er bislang nicht eingestellt, weil ihnen „meist pädagogisches Wissen fehlt“. Viele Schulleiter sind dennoch auf diese Akademiker angewiesen: So waren im November an allen Hamburger Schulformen insgesamt rund 540 Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger über Lehraufträge beschäftigt.

„Wir brauchen ein positives Anreizsystem wie eine bessere Vergütung oder die Aussicht auf Beförderungsstellen. “  (Jochen Grob, Leiter der Ganztagsschule Fährstraße in Wilhelmsburg)

Bildungssenator Ties Rabe (SPD) hat angekündigt, vermehrt Lehrkräfte über das Pensionsalter hinweg „in Ausnahmefällen“ arbeiten zu lassen. Lehramtsstudierenden, „die als Nebenjob während ihres Studiums an einer Schule arbeiten“, verspricht er in seinem aktuellen Newsletter „Vorteile bei ihrer späteren Bewerbung für den Hamburger Schuldienst“. Das lehnt die GEW jedoch insbesondere an sozial benachteiligten Standorten als pädagogisch höchst fragwürdig ab. Auch dass Referendarinnen und Referendare für Mehrarbeit herangezogen werden – an vielen Schulen bereits Realität – kritisiert die Landesvorsitzende als Überforderung der angehenden Kolleginnen und Kollegen. Verständnis äußert sie hingegen für Schulleitungen, die in Notsituationen auf angehende Lehrkräfte zurückgreifen, die auf den Vorbereitungsdienst warten.

Wie Schulen an sozial benachteiligten Standorten passende Lehrkräfte finden und das gute und engagierte Personal halten können, dazu hat sich Rabe nicht geäußert. „Wir brauchen ein positives Anreizsystem wie eine bessere Vergütung oder die Aussicht auf Beförderungsstellen“, fordert Grob und wird dabei von der GEW unterstützt. Weil an diesen Schulen viel Beziehungs- und Sozialarbeit über die in der Dienstzeitregelung vereinbarten Kontingente hinaus geleistet werden muss, spricht er sich zudem für eine Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung aus.

Noch gibt es an den genannten Grund- und Stadtteilschulen keinen Unterrichtsausfall. Die Schulen seien in der Lage, „kurzfristig vieles abzufedern“, berichtet Sabine Bielefeldt, Personalrätin in Mümmelmannsberg und Fachgruppenvorstand Grundschule in der GEW Hamburg. „Da viele Kolleginnen nicht in Vollzeit arbeiten, finden sich bei Bedarf Freiwillige, die zeitweise ihre Stundenzahl aufstocken.“ Das sei wegen der vielfältigen Aufgaben jedoch „kräftemäßig kaum noch zu schaffen“. Schon gar nicht mit dem Anspruch, gute Arbeit zu leisten. Auch deshalb ist für sie nicht nachvollziehbar, dass Grundschullehrkräfte noch immer mit A12 (Beamte) und E11 (Angestellte) abgespeist werden. „So bleibt das Grundschullehramt finanziell unbeliebt.“