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Moralkompetenz

Konflikte lösen lernen

Georg Lind plädiert im „E&W“-Interview dafür, dass Schulen die „Moralkompetenz“ Heranwachsender stärken sollten. Wie, dazu hat der emeritierte Professor für Psychologie an der Universität Konstanz eine Methode entwickelt.

  • E&W: Herr Lind, wir erleben Angriffe auf geflüchtete Menschen, antisemitische Hetze, Wahlerfolge der Rechtspopulisten. Sie setzen sich auch deshalb dafür ein, dass Schülerinnen und Schüler „Moralkompetenz“ lernen. Zunächst: Wofür steht dieser Begriff?

Georg Lind: „Moralkompetenz“ ist die Fähigkeit, Konflikte und Probleme auf der Grundlage gemeinsamer Moralprinzipien – etwa Gerechtigkeit und Respekt - durch Nachdenken und im Gespräch zu lösen. Es geht darum, in Auseinandersetzungen nicht mit Gewalt, auch nicht mit Unterwerfung zu reagieren. Wer nur über geringe „Moralkompetenz“ verfügt, der empfindet heikle Entscheidungs- und Beziehungssituationen schnell als bedrohlich, weil er sich überfordert fühlt.

  • E&W: Wie lässt sich „Moralkompetenz“ an Schulen vermitteln?

Lind: Mithilfe der „Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion“, kurz KMDD, konfrontieren ausgebildete Fachkräfte die Schülerinnen und Schüler mit einer Dilemma-Geschichte, in der eine schwierige Entscheidung zu treffen ist. In einer Pro- und einer Kontra-Gruppe wird diese anschließend diskutiert. Die beiden Gruppen müssen versuchen, einander in einem Dialog zu überzeugen. Hier gilt die Regel: Niemand darf bewertet werden. So kann man Mädchen und Jungen befähigen, sich moralische Kompetenzen anzueignen, die für die Lösung eigener Konflikte notwendig sind. Ich habe diese Methode bereits in der Grundschule angeboten, aber auch an Hochschulen und in Seniorenheimen.

  • E&W: Wie war das Feedback?

Lind: Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer meldeten uns zurück: So lange hätten sie noch nie über ein unangenehmes Thema geredet, ohne sich gegenseitig „an die Gurgel“ zu gehen. Auch die Messungen mit einem Testverfahren vor und nach einer 90-minütigen Unterrichtseinheit zeigen einen deutlichen Anstieg der „Moralkompetenz“. Bei diesem „Moral Competence Test“ werden zwei Dilemma-Geschichten vorgegeben, außerdem die Pro- und Kontra-Argumente für eine Position. Dann werden die Teilnehmenden gebeten, diese auf einer Skala zu bewerten: Stimmen sie einem Argument stark zu, nur eingeschränkt oder lehnen sie es ab. Jede Bewertung ist mit einem Punktwert verknüpft. Daraus wird ein Ergebnis ermittelt. Der Erfolg hängt von einer qualifizierten Ausbildung der Lehrenden ab.

  • E&W: Wie bilde ich mich als Lehrkraft entsprechend fort?

Lind: Die Ausbildung besteht aus zwei Teilen, zunächst aus einem einwöchigen Workshop. Anschließend haben die Teilnehmenden zwei bis drei Monate Zeit, das Gelernte einzuüben. Währenddessen werden sie online betreut und beraten. Für die KMDD-Zertifizierung müssen die Kandidatinnen und Kandidaten unter anderem einen nicht geschnittenen Videofilm schicken, der zeigt, dass sie die Methode beherrschen. Die Ausbildung findet etwa in Universitäten, Volkshochschulen, Fortbildungsinstituten für Lehrkräfte und Ministerien statt.

  • E&W: In welchen Ländern wird diese Methode bereits praktiziert?

Lind: Ich habe Workshops in der Schweiz, in China und der Türkei gemacht, auch in Mexiko, Brasilien und Chile. In Kolumbien kam, als dort noch Bürgerkrieg herrschte, aus Regierungskreisen die Bitte, ob ich dabei helfen könne, in der Bevölkerung mehr Demokratie- und Moralbildung zu vermitteln. Das sei wichtig, um Frieden zu schaffen. Ich habe dort damals mehrfach Workshops angeboten und auch das Bildungsministerium beraten.

  • E&W: Zurück nach Deutschland: Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand unserer Demokratie?

Lind: Das Bewusstsein ist hierzulande geschwunden, dass Demokratie erkämpft wurde und von der Zivilgesellschaft immer wieder weiterentwickelt und neu gestaltet werden muss. Das ist einer der Gründe, warum anti-demokratische Kräfte derzeit an Land gewinnen. KMDD könnte einen Beitrag leisten, diesem Trend – zumindest in den Bildungseinrichtungen – entgegenzuwirken.

Georg Lind, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Konstanz