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Kinderarbeit in der Türkei

In der Türkei arbeiten fast 900.000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren. Bei einem Seminar Ende Mai in Diyarbakir, an dem auch drei GEW-Kollegen teilnahmen, wurde über Ursachen und Lösungsmöglichkeiten diskutiert.

Foto: Manfred Brinkmann

Rund 35 Personen - Lehrerinnen und Lehrer, Vertreter von Industriegewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, ILO-Repräsentanten, Wissenschaftler und Juristen nahmen am 25./26. Mai 2013 an einem Seminar zum Thema Kinderarbeit in der Türkei teil, dass gemeinsam von der türkischen Bildungsgewerkschaft Egitim Sen und der Bildungsinternationale veranstaltet wurde. Auch die GEW und die niederländische Bildungsgewerkschaft AOb waren eingeladen und durch Norbert Müller, Süleyman Ates und Manfred Brinkmann sowie durch Trudy Kerperien in Diyarbakir vertreten.

Von Bildung ausgeschlossen

Nach offiziellen Zahlen des Statistikamtes Turkstat arbeiteten im vergangenen Jahr in der Türkei 893.000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren. Seit der letzten Turkstat Erhebung zur Kinderarbeit von 2006 ist diese Zahl sogar leicht gestiegen. Kinderarbeiter finden sich praktisch überall in der Türkei – in der Industrie, in Hotels und Restaurants, im Straßenhandel, in der Prostitution, vor allem aber im Haushalt und in der Landwirtschaft. Mehr als die Hälfte (54%) der Kinderarbeiter ist laut Turkstat jünger als 14 Jahre. „Kinder, die arbeiten, gehen meist nicht zur Schule und bleiben so von Bildung ausgeschlossen. Als Bildungsgewerkschaft können wir das nicht akzeptieren“, erläuterte Mehmet Bozgeyik, Generalsekretär der Egitim Sen, zu Beginn des Seminars die Gründe, warum seine Gewerkschaft sich gegen Kinderarbeit engagieren will.

Kurdische Kinder besonders betroffen

Kinderarbeit ist durch die türkische Verfassung und durch nationale Arbeits- und Bildungsgesetze eigentlich verboten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. „Die türkische Regierung zeigt wenig Interesse, das Verbot der Kinderarbeit durchzusetzen“, kritisierte die Juristin Gazal Bayram Koluman von der Anwaltskammer in Diyarbakir. Nicht ohne Grund war die Millionenstadt Diyarbakir mit ihrer mehrheitlich kurdischen Bevölkerung als Tagungsort ausgewählt worden, sind es doch vor allem kurdische Familien mit ihren Kindern, die als Saisonarbeiter oft Monate durch die Türkei reisen und den verschieden Erntezyklen landwirtschaftlicher Produkte wie Haselnüsse, Baumwolle, Tomaten, Zuckerrüben oder Aprikosen folgen, weil sie zu Hause keine Arbeit finden

Verschiedene Ursachen von Kinderarbeit

Als „größte Ausbeutung unserer Zeit“ bezeichnete Cemal Doğrul von der Nahrungsmittelgewerkschaft „Tek Gıda İş“ die Kinderarbeit in der Türkei. Es sei beschämend für das Land, dass die wirtschaftlichen Erfolge auch durch Kinderarbeit zustande kommen. Die Armut der Kurden in Ostanatolien ist eine der Ursachen von Kinderarbeit in der Türkei, aber nicht die einzige. Auch kulturelle Gründe spielen eine Rolle, insbesondere bei Mädchen, die im Haushalt arbeiten müssen und nicht selten schon mit jungen Jahren verheiratet werden. Dazu kommt, dass die Klassenstärken an den Schulen oft viel zu groß sind und somit ein guter Unterricht, der den einzelnen Kindern gerecht wird, nicht möglich ist. Entsprechend hoch ist die Zahl der Schulabbrecher, die dann früh arbeiten gehen. Als zusätzliches Problem in jüngster Zeit wurde auch die steigende Zahl von Flüchtlingen aus Syrien genannt, die zu einem Anstieg der Kinderarbeit in der Türkei geführt hat.

Haselnüsse für die Schokoladenindustrie

Viel wurde in dem Seminar über Haselnüsse diskutiert. Die Türkei ist weltweit der größte Produzent von Haselnüssen und für rund siebzig Prozent des weltweiten Exports verantwortlich. Die Haselnüsse wachsen an der Schwarzmeerküste und werden vor allem in der Schokoladenindustrie benötigt. Ganze Familien mit ihren Kindern pflücken in den Monaten September und Oktober im küstennahen Bergland oft bis zu zehn Stunden am Tag für einen Stundenlohn von 1 Euro Haselnüsse und leben während dieser Zeit in improvisierten Zeltunterkünften unter schwierigen hygienischen Bedingungen. Ein Film des türkisch-niederländischen Filmemachers Mehmet Ülger hat die Kinderarbeit in der Haselnussernte vor rund zwei Jahren erstmals öffentlich gemacht.

Saisonarbeiter fordern menschenwürdige Arbeitsbedingungen

Inzwischen gibt es auch erste Reaktionen von Schokoladenproduzenten und Handelsunternehmen in den Importländern, wie Manfred Brinkmann am Beispiel der Supermarktkette REWE in Deutschland zu berichten wusste. REWE hatte 2012 eine Studie zu den sozialen und ökologischen Aspekten der Haselnussproduktion in der Türkei finanziert, die zu dem Ergebnis kommt, dass „die Löhne der Wanderarbeiter (...) sehr niedrig (sind), was zur Kinderarbeit beiträgt“ und dass „kurdische Beschäftigte (...) ethnisch diskriminiert (werden) und (...) niedrigere Löhne als andere Erntehelfer (erhalten).“ Bessere Bezahlung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Saisonarbeiter forderten daher auch die Vertreter vom Verein mesopotamischer Saisonarbeiter „Met-Der“, die an dem Seminar in Diyarbakir teilnahmen.

Ein erster wichtiger Schritt

Trudy Kerperien von der niederländischen Bildungsgewerkschaft AOb berichtete über hoffnungsvolle Erfahrungen aus Marokko und Albanien, wo Lehrergewerkschaften durch ihren Einsatz für bessere Bildung an den Schulen die Schulabbrecherquoten erheblich senken konnten. Dies hätte nicht nur zu einer Verringerung der Kinderarbeit geführt, sondern gleichzeitig das öffentliche Ansehen der Gewerkschaften verbessert und diese gestärkt. Unter den Seminarteilnehmern bestand Einmütigkeit, dass das Seminar ein erster wichtiger Schritt für gewerkschaftliches Handeln gegen Kinderarbeit in der Türkei war, dem weitere Aktivitäten folgen müssten. Gefordert wurden öffentlichkeitswirksame Aktionen, mehr Informationen und Erfahrungsaustausch mit anderen Gewerkschaften in Europa, weitere Seminare sowie Arbeitsgruppen in den lokalen Egitim Sen Gliederungen, die sich vor Ort mit dem Problem der Kinderarbeit beschäftigen sollen.