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Berufliche Bildung

„Kein Tag ist wie der andere“

In der Transformation der Arbeitswelt bleibe der Mensch wichtig, denn das „Erfahrungswissen“ sei ein zentrales Element in der Digitalisierungsära, sagt der Arbeitssoziologe Prof. Fritz Böhle.

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Erfahrungswissen ist in der schulischen Bildung bislang kein Lernziel. Am ehesten lernt es der Mensch in der dualen beruflichen Bildung. (Foto: mauritius images/Cristina Conti/Alamy)
  • E&W: Herr Böhle, die Arbeitswelt ist im Umbruch. Stichworte sind unter anderem Transformation der Arbeit und Digitalisierung. Braucht man den Menschen noch?

Fritz Böhle: Wir haben ein neues Niveau der Technisierung durch Digitalisierung, aber der Mensch wird hierdurch nicht komplett ersetzt. Die Frage ist: Welche unterschiedlichen Aufgaben haben in Zukunft Mensch und Technik? Hierzu brauchen wir einen neuen Blick auf Grenzen der Technisierung und die Stärken des Menschen.

  • E&W: Was heißt das?

Böhle: Die traditionelle Gegenüberstellung von körperlicher Arbeit und geistiger Arbeit greift nicht mehr. Es wird nun gerade auch geistige Arbeit technisiert. Zugleich treten unerwartete Schwierigkeiten bei der Technisierung praktisch-körperlicher Arbeit auf, auch dort, wo sie als einfach gilt, zum Beispiel beim Umgang mit einer Spritze in der Medizin.

  • E&W: Woran liegt das?

Böhle: Die Digitalisierung beruht darauf, Informationen zu verarbeiten. Sie ist umso erfolgreicher, je mehr Informationen als Daten vorliegen, beispielsweise im Internet und in Datenbanken. Doch die Eigenschaften der realen Welt liegen nicht immer in Form klar abgreifbarer Informationen vor. Man kann zwischen einfach strukturierten und komplexen, vielfältigen realen Situationen unterscheiden. Bei Spielen wie Schach oder Go sind die relevanten Informationen klar definiert und einfach zu erfassen. Anspruchsvoll ist die Verarbeitung der Informationen, nicht aber die Wahrnehmung der Spielzüge und des Stands der Figuren und so weiter. Sehr viel anders ist die Situation im Straßenverkehr und bei Produktionsprozessen in der Industrie, etwa der Metallbearbeitung, der chemischen Industrie oder bei Dienstleistungen beispielsweise im Gesundheitsbereich.

  • E&W: Was folgt daraus für die Beurteilung der Digitalisierung?

Böhle: Eine noch so große Rechenkapazität nützt nichts, wenn die Informationen unzulänglich sind. Daraus ergeben sich dann zum Beispiel auch Unterschiede zwischen dem autonomen Fahren auf einer Teststrecke oder der Autobahn im Unterschied zum Fahren in einer Großstadt oder auf holprigen Wegen im Gelände.

  • E&W: Was kann dabei der Mensch, was die Technik nicht kann? Sie haben sich ja lange mit dem Erfahrungswissen beschäftigt. Spielt das hier eine Rolle?

Böhle: Ja. Die Sicht auf das Erfahrungswissen ändert sich. Erfahrungswissen wird zumeist mit Routine oder einem akkumulierten Erfahrungsschatz gleichgesetzt, den man wie einen Rucksack trägt. Doch dies ist nur ein Bruchteil des Erfahrungswissens. Der wesentliche Teil des Erfahrungswissens ist ein implizites Wissen, das in praktisches Handeln eingebunden ist. Es ist hierfür nicht ablösbar und als eigenständiges Wissen darstellbar. Daher wird oft anstatt von Erfahrungswissen von Können gesprochen. Im praktischen Tun wird aber Wissen nicht nur angewendet, sondern es wird auch neues Wissen erworben. Wir sprechen daher lieber von Erfahrungswissen als von Können, da beim Begriff des Könnens der Erwerb von Wissen durch praktisches Handeln leicht übersehen wird. Erfahrungswissen beruht auf einem bestimmten Umgang mit den Dingen.

  • E&W: Können Sie das genauer erläutern?

Böhle: Grundlegend für das Erfahrungswissen ist eine Wahrnehmung mit allen Sinnen, die weit darüber hinaus geht, nur einfache Informationen zu registrieren – so wie dies bei der Wahrnehmung von Zahlen, Buchstaben und akustischen Signalen der Fall ist. Wahrnehmen heißt hier vor allem etwas zu spüren, zu erspüren und ein Gespür für etwas zu entwickeln. So werden technische Vorgänge und Prozesse am eigenen Leib mit- und nachvollzogen. Ein Geräusch wird als schräg oder schmerzhaft, ein organisatorischer Ablauf als stimmig oder eine Atmosphäre als drückend wahrgenommen. Hierzu ist interaktiv-dialogischer Umgang mit den Dingen notwendig.

  • E&W: Gilt das auch beim Umgang mit Gegenständen?

Böhle: Ja. Der Dialog erfolgt hier nicht verbal, sondern durch ein praktisches Einwirken, also durch die Wahrnehmung, wie die Dinge reagieren.

  • E&W: Kommt es nur auf die Wahrnehmung und das Gefühl an?

Böhle: Nein, keinesfalls. Es wird sehr wohl gedacht, und das ist auch wichtig. Man denkt aber nicht nur logisch, analytisch und begrifflich, sondern eher assoziativ und bildhaft. Man erinnert sich an ähnliche Situationen, die man schon mal erlebt hat, man sieht einen Lösungsweg vor sich und spielt einen Ablauf wie im Film durch. Man muss sich dabei auf die Dinge einlassen und ihnen nicht nur distanziert gegenüberstehen.

  • E&W: Sie sprachen zuvor vom Unterschied gegenüber dem Erfahrungsschatz ...

Böhle: Das Erfahrungswissen ist eben nichts Statisches und Abgeschlossenes. Es entsteht im praktischen Handeln in immer wieder neuer Weise. Voraussetzung ist allerdings Erfahren und Erfahrung machen – so wie ich es geschildert habe. Dann richtet sich das Erfahrungswissen nicht auf die Vergangenheit, sondern im Gegenteil auf die aktuelle Situation und Veränderungen. Dies ist für praktisches Handeln sehr wichtig. Auch wenn im Alltag und in der Arbeit Routine und Gleichbleibendes bestehen, treten laufend Veränderungen und neue Situationen ein, kein Tag ist wie der andere. Wir müssen unser Handeln daher ständig an variierende Situationen und Anforderungen anpassen. Man spricht daher auch von einer alltäglichen Kreativität beim Handeln.

  • E&W: Muss man das Erfahrungswissen lernen, und wie geht das?

Böhle: Wichtig ist, das Erfahrungswissen nicht im Sinne von Rezepten für praktisches Handeln zu verstehen. Es geht um die Fähigkeit, mit den Dingen so umzugehen, dass man ein besonderes Erfahrungswissen über ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen gewinnt. Bisher lernt man dies beiläufig – mehr oder weniger. In der schulischen Bildung ist es kein Lernziel. Am ehesten lernt es der Mensch in der dualen beruflichen Bildung. Hier hat die berufliche Bildung ein sehr großes Potenzial, das aber bisher in dieser Weise gar nicht erkannt und gewürdigt wird.

  • E&W: Was heißt das für die Zukunft?

Böhle: Es ist wichtig, zukünftig unterschiedliche Formen des Wissens zu beachten, also nicht nur das explizite systematische Wissen, sondern auch das implizite Erfahrungswissen. Unsere Prognose ist, dass Erfahrungswissen zukünftig immer wichtiger wird. Die digitale, virtuelle Welt bildet die reale Welt nur unvollständig ab. Menschen müssen dies erkennen und ausgleichen. Man muss in der Lage sein, „hinter“ die Daten zu schauen. Hierzu ist ein systematisches Wissen, aber vor allem auch Erfahrungswissen notwendig.

Professor Fritz Böhle forscht seit Jahrzehnten über „Lernen im Prozess der Arbeit“ und das „Erfahrungswissen“. (Foto: Isf-muenchen)