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Inklusion: Leuchttürme und Brachland

Im Februar setzt die Redaktion die Länderserie Inklusion mit Hessen fort. Viele Schulen öffnen sich der Inklusion, doch von einem flächendeckenden gemeinsamen Unterricht ist das Bundesland weit entfernt.

In der Süd-West-Grundschule im hessischen Eschborn lässt sich der Erfolg von Inklusion an ihrer Unsichtbarkeit ablesen. Die typische Besucherfrage, welche Kinder hier „inkludiert“ werden, läuft erst einmal ins Leere. 22 Mädchen und Jungen sitzen im Klassenraum der 1 a. Mehrere haben einen sogenannten sonderpäda­go­gi­schen Förderbedarf. Doch wer genau betroffen ist, lässt sich von außen kaum feststellen. Ein autistischer Junge sitzt ganz vorn am Tisch. Er wird zielgleich zu den anderen Schülerinnen und Schülern unterrichtet. Ab und zu braucht er Unterstützung – zum Beispiel, wenn ihm Abweichungen vom geregelten Schulalltag zu schaffen machen oder es zu laut in der Klasse wird. Dann hält ihm Klassenlehrerin Verena Rautenberg-Gaus, die gemeinsam mit der Förderschulkollegin Ellen Sierich im Team arbeitet, einfach mal die Ohren zu. „Für uns ist das alles Normalität“, sagt Sierich und meint damit die Kinder in all ihrer Unterschiedlichkeit. Die große Heterogenität in den Klassen lasse kein Lernen im Gleichschritt zu.

Die Süd-West-Schule war 1986 eine der ersten Einrichtungen in Hessen, die in einem Schulversuch integrativ zu arbeiten begann. Gesonderte Integrationsklassen (I-Klassen) gibt es hier aber schon lange nicht mehr. Seit 1992 ist der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen in allen Klassen gelebte Schulrealität. Differenzierung im Unterricht und Kooperation zwischen den Lehrkräften werden erfolgreich praktiziert. Die 286 Schülerinnen und Schüler erhalten keine klassischen Ziffernnoten, sondern verbale Beurteilungen bis zur 4. Klasse.

Die Eschborner Schule ist ein Leuchtturm inmitten der kunterbunten hessischen Schullandschaft, die bundesweit nicht gerade zu den Vorreitern in Sachen Inklusion zählt. Zwar hatte die frühere schwarz-gelbe Landesregierung den Prozess in den vergangenen Jahren vorangetrieben, indem sie das Schulgesetz überarbeitete – jedoch mit mäßigem Erfolg. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung bescheinigte dem Land vor einem Jahr zwar, Schritte in die richtige Richtung zu gehen, so stieg der Anteil der Förderschüler, die eine reguläre Schule besuchen. Gleichzeitig hatten und haben die Förderschulen aber einen enormen Zulauf.

In Hessen zeigt sich zudem ein Trend, den man in allen Bundesländern beo­bachten kann: Je älter die Heranwachsenden sind, desto geringer ist ihre Chance auf ein gemeinsames Lernen. Während vor der Schulzeit in Hessen fast 90 Prozent aller Mädchen und Jungen mit Förderbedarf zusammen mit allen anderen Kindern betreut werden, sind es im Grundschulalter laut Bertelsmann-Studie nur noch 35 Prozent, in der Sekundarschule lediglich zwölf Prozent.

Ressourcenmangel

Ein Hemmnis für die Inklusion ist die mangelhafte finanzielle und personelle Unterstützung angesichts klammer Kassen und anstehender Schuldenbremse, die alle Bundesländer schultern müs­sen. Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat berechnet, dass Hessen jährlich 27 Millionen Euro für 380 zusätzliche Lehrer­innen und Lehrer bräuchte, um „inklusi­ven Unterricht in angemessener Qualität anbieten zu können“.

Doch davon ist das Land weit entfernt. Zwar hat die alte Landesregie­rung den Weg zum gemeinsamen Unterricht erleichtert. Aber immer noch können Schulen Kinder mit Behinderungen abweisen, sofern ihnen die Ressourcen dafür fehlen – zum Beispiel Fachkräfte oder bauliche Voraussetzungen.

Die ehemalige CDU-FDP-Regierung wollte zudem ein Nebeneinander von Förder- und Regelschulen. Ob die schwarz-grüne Regierung hier andere Akzente setzen wird, ist fraglich. Laut Koalitionsvertrag will sie zwar „an der 105-prozentigen Lehrerversorgung im Landesschnitt“ festhalten. Obwohl erwartet wird, dass die Schülerzahlen um sechs bis acht Prozent bis zum Jahr 2019 zurückgehen werden, wollen CDU und Grüne die frei werdenden Lehrerstellen nicht streichen, was zusätzliche Ressourcen für die Inklusion bedeuten könnte. Andererseits setzen die neuen Koalitionspartner weiterhin auf das teure Parallelsystem von Sonder- und Regelschulen. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Dort, wo es von den Eltern gewünscht wird, werden wir das Förderschulsystem weiterentwickeln.“ Das hört sich nach Schulfrieden mit einer großen Portion Pragmatismus an, könnte aber in der Praxis dazu führen, dass lediglich der Status quo festgeschrieben wird und alles beim Alten bleibt.

Der Inklusionsexperte Hajo Rother, Leiter der Eschborner Süd-West-Grundschule, bleibt skeptisch. Fragt man den Pädagogen, wie weit die Inklusion in Hessen gediehen sei, gibt er zwei Antworten: „Unsere Schule ist weit gekommen.“ Für sein Bundesland lässt er das so pauschal jedoch nicht gelten. Zwar habe es in manchen Landesteilen, gerade auf dem Land, einen Schub gegeben, weil dort zuvor kaum inklusive Strukturen vorhanden gewesen seien. Aber eine inklusive Schulentwicklung in der Fläche könne er bislang nicht erkennen.

Rother sieht in Hessen noch viele hausgemachte Hürden. Er wünscht sich zum Beispiel, dass Förderschullehrkräfte fest zum Kollegium der Regelschulen gehören – und nicht, wie unter der alten Landesregierung geschehen, den Sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentren (einem neu organisierten Förderschulnetzwerk) angegliedert werden. „Das ist absurd“, sagt Rother: „Förderschullehrkräfte dürfen keine Gäste an der Schule sein, sondern müssen zum Team gehören. Wenn Inklusion für die Schüler gilt, dann muss sie doch auch für die Pädagoginnen und Pädagogen gelten.“