Es ist nicht wenig, was die Bremer Bildungsbehörde von ihren Beschäftigten erwartet. Und sie hat ihre Wünsche in einer Fülle von Verordnungen präzise formuliert. Unter anderem hat eine Lehrkraft in der Hansestadt je Schuljahr mindestens 30 Stunden Fortbildung zu absolvieren. Sie hat über die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler sowie die eigene Arbeit ständig Buch zu führen und diese Aufzeichnungen Eltern und Schülern auf Nachfrage offenzulegen. Sie soll sich auch außerhalb des Unterrichts um ihre Schutzbefohlenen kümmern, sich mit deren Lebensverhältnissen soweit vertraut machen, dass sie „zu angemessenem erzieherischem Verhalten in der Lage ist“. Deswegen sind Hausbesuche und Kooperation mit familiären und sozialen Beratungsstellen Pflicht.
Seit 2015 gibt es zudem an Bremer Grundschulen ein neues System zur Messung des Lernerfolgs, das an die Stelle der grobschlächtigen Notenskala von eins bis sechs treten sollte. Die „Kompetenzorientierte Leistungsrückmeldung“, kurz „KompoLei“, bringt zusätzliche Anforderungen mit sich. Lehrkräfte sollen Leistungsnachweise gemäß definierten Prozessen und Materialien erstellen und den Eltern mitteilen. Sie sollen detailliert beschreibende Entwicklungsübersichten anfertigen, und zwar in vier Kompetenzbereichen, die in zehn Fähigkeitsstufen zu differenzieren sind – dies alles neben dem Unterrichtsalltag für bis zu 25 Schülerinnen und Schüler einer Klasse. Jede Lehrerin, jeder Lehrer soll dabei so gründlich verfahren, dass das Ergebnis „gerichtsfest“ ist, denn die „KompoLei“ bestimmt über Bildungskarrieren. Ist das zu schaffen?
Zwei Drittel empfinden die „gelegentlich schlimmen innerfamiliären Verhältnisse“ in Elternhäusern als psychisch sehr belastend.
Eigentlich nicht, meinen sechs Bremer Grundschulkollegien, die im vorigen Jahr an einer Erhebung von ISF und GSV mitwirkten. Demnach empfinden mehr als 50 Prozent der Befragten die Anfertigung von Lernentwicklungsberichten und Zeugnissen als psychisch „sehr belastend“, was dem Spitzenplatz auf einer vierstufigen Stress-Skala entspricht. Für ein Drittel der Befragten bedeutet der Kontakt mit Behörden Maximalstress, für 82 Prozent auffälliges Schülerverhalten, für die Hälfte der Lehrerschaft der Lärm im Schulalltag. Und zwei Drittel empfinden die „gelegentlich schlimmen innerfamiliären Verhältnisse“ in Elternhäusern als psychisch sehr belastend.
Insgesamt zeigt auch die Bremer Studie, dass Grundschullehrkräfte sich durch ein hohes Maß an Berufszufriedenheit auszeichnen. Für 84 Prozent der Befragten ist die pädagogische Arbeit eine wesentliche Quelle von Freude und Spaß. Zugleich leiden sie unter dem Druck übermäßiger Anforderungen am Gefühl des Ungenügens. Sie beklagen, dass ihnen Zeit und Kraft fehlten, um sich einzelnen Schülerinnen und Schülern in dem Maße zuzuwenden, wie sie es selbst für erforderlich halten. Auch die Unterrichtsqualität genüge den eigenen Ansprüchen nicht.
„Eine im Durchschnitt jüngere Lehrerschaft erlebt heute schon denselben Leidensdruck wie die damals Älteren.“ (Helmut Zachau)
Das ISF war bis 2008 eine Einrichtung der Bremer Uni und wird seither vom emeritierten Institutsleiter Hans-Georg Schönwälder sowie mittlerweile drei weiteren Wissenschaftlern und Praktikern in privater Trägerschaft weitergeführt. „Wir sind vier Großväter, die sich darum sorgen, dass ihre Enkel auch noch ordentliche Schulen kriegen“, sagt Helmut Zachau, Koautor der Studie. Der Untersuchung lag ein Fragebogen zugrunde, den das ISF bereits 1999 bei einer gleichlautenden Erhebung im Auftrag des Bremer Senats benutzt hatte. Im Vergleich zeichnet sich nach Zachaus Worten als Ergebnis ab, dass das Niveau der empfundenen Belastung unverändert geblieben ist. Es gebe allerdings einen markanten Unterschied. Vor zwei Jahrzehnten waren über 50 Prozent der Befragten älter als 50 Jahre, diesmal waren es nur 25 Prozent. Das heißt: Eine im Durchschnitt jüngere Lehrerschaft erlebt heute schon denselben Leidensdruck wie die damals Älteren. Die Betroffenen seien „deutlich eher im Verschleißmodus“, sagt Zachau.
Anders als vor zwei Jahrzenten wird in der vorliegenden Studie zusätzlich ein objektiver Befund erhoben, der die Äußerungen der Befragten ergänzt. Die Autoren gleichen die von Lehrkräften verlangte Leistung mit der gesetzlich verfügbaren Arbeitszeit ab. Dazu haben sie aus den Bremer Schulverordnungen 55 Einzelaufgaben destilliert – von „Unterrichten“ bis „Dokumentation der Fortbildungsaktivitäten“ – und neun der so ermittelten Anforderungen jeweils mit vorsichtig kalkulierten jährlichen Zeitbudgets unterlegt. In der Summe ergab sich, dass eine einzelne Lehrkraft allein für die ausgewählten neun Tätigkeiten bereits 1.743 Stunden aufwenden muss – nicht viel weniger als die gesetzlich fixierte Jahresarbeitszeit von 1.780 Stunden im öffentlichen Dienst. Folge einer Bildungspolitik, die Schulen mit immer weiteren Innovationen befrachte, ohne das Verhältnis zwischen Aufgabenvolumen und verfügbarer Arbeitskraft zu beachten, meinen die Autoren.
Die Bremer GEW sieht sich durch die Studie in der Forderung bestätigt, die Unterrichtsverpflichtung von Lehrkräften an Grundschulen zu ermäßigen. Diese sei mit 28 Wochenstunden „viel zu hoch“, sagt Landesvorstandssprecher Bernd Winkelmann. Dringend erforderlich sei auch, die Anforderungen an Lernentwicklungsberichte zu reduzieren. Eine seriöse Einschätzung von Schülerleistungen sei auch mit deutlich geringerem als dem „KompoLei“-Aufwand möglich. Schließlich gelte es, die finanzielle Attraktivität des Lehramts an Grundschulen zu steigern, um dem Personalmangel gegenzusteuern.