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Berufliche und akademische Bildung

Hohe Hürden

Wer studieren will und eine abgeschlossene Berufsausbildung, aber kein Abitur hat, dem wird die Aufnahme eines Studiums erschwert. E&W hat mit Andrä Wolter, Professor für Hochschulforschung, über mangelhafte Durchlässigkeit gesprochen.

Andrä Wolter ist Professor (i.R.) für Hochschulforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2004 bis 2018 war er Mitglied der Autorengruppe des Nationalen Bildungsberichts. Er ist Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. (Foto: privat)
  • E&W: Die Bildungspolitik befasst sich seit vielen Jahren mit der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Eigentlich müssten wir hier also doch ganz gut abschneiden?

Prof. Andrä Wolter: Bildungsrechtlich betrachtet hat diese Durchlässigkeit in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber ohne traditionelle schulische Hochschulreife ist seit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2009 größer geworden: Inhaberinnen und Inhabern von Abschlüssen wie Meister, Techniker oder Fachwirt wurde damit der Hochschulzugang eröffnet. Die berufliche Fortbildung wurde praktisch mit dem Abitur gleichgestellt. Trotzdem ist die Durchlässigkeit an der Schwelle des Hochschulzugangs immer noch bescheiden. Die Hürden für Bewerberinnen und Bewerber aus der betrieblichen Berufsausbildung oder dem Schulberufssystem sind weiter hoch, mit Unterschieden zwischen den Ländern.

  • E&W: Der KMK-Beschluss ist also nur begrenzt wirksam?

Wolter: Vor 2009 lag der Anteil der nicht traditionell Studierenden, also derjenigen ohne Abitur, weit unter einem Prozent. Jetzt pendelt er um die 3 Prozent. Das ist zumindest ein kleiner Fortschritt. Wenn man mehr erreichen will, muss man vor allem die Anerkennung der betrieblichen Berufsausbildung beim Hochschulzugang verbessern. Bisher darf jemand ohne Fortbildungsabschluss nur in einem Fach studieren, das affin zu seiner Berufsausbildung ist: Ein Elektriker darf Elektrotechnik oder ein Kaufmann Betriebswirtschaft studieren. Das ist problematisch, weil wir viele Ausbildungsberufe in Deutschland haben, die nicht mit einem Studienfach korrespondieren, und umgekehrt viele Studiengänge, für die es keine Ausbildungsberufe gibt.

  • E&W: Warum tun wir uns so schwer damit, berufliche und akademische Bildung als gleichwertig anzusehen?

Wolter: Die Widerstände gehen eher von der hochschulischen als von der beruflichen Bildung aus. Zwar unterstützen Stellungnahmen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und des Wissenschaftsrates eine Öffnung des Hochschulzugangs, und einige Hochschulen sind in dem Bereich auch aktiv und engagiert. Andere Hochschulen sind dagegen noch zurückhaltend. Einige haben zum Beispiel Kontingente für beruflich qualifizierte Studienbewerber eingeführt.

  • E&W: Welche Befürchtungen haben diese Hochschulen?

Wolter: Die Zurückhaltung, die wir oft beobachten, hängt mit zwei Argumenten zusammen. Das eine ist die Sorge, dass es einen massiven Zustrom geben könnte. Die Hochschulen haben ohnehin schon Kapazitätsengpässe, die will man nicht verstärken. Die andere Besorgnis hängt damit zusammen, dass die Meinung immer noch weit verbreitet ist, berufliche Bildung führe nicht zur Studierfähigkeit.

  • E&W: Sind diese Vorbehalte begründet?

Wolter: Das erste Argument ist ein bisschen absurd, weil die Zahlen nicht so groß sind, dass die Hochschulen das nicht bewältigen könnten. Die Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber ohne Abitur wird sicher nicht dazu führen, dass deren Studienanteil exorbitant steigt. Wer einen Fortbildungsabschluss wie einen Meister oder Techniker macht, erwirbt den in der Regel, um sich selbstständig zu machen oder im Betrieb aufzusteigen, nicht um zu studieren. Das zweite Argument kann die Studie Nicht-traditionelle Studierende der Humboldt-Universität und des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung* widerlegen: Wir stellen zwar fest, dass die Abbruchquote dieser Gruppe etwas höher ist als im Durchschnitt. Aber die Notenunterschiede zwischen den beruflich Qualifizierten und den Abiturienten liegen im Kommabereich.

  • E&W: Haben Sie analysiert, warum es in dieser Gruppe etwas mehr Abbrecher gibt?

Wolter: Viele beruflich qualifizierte Studierende haben Zeitmanagement-Probleme, weil sie parallel ihre Erwerbstätigkeit fortsetzen und – wenn sie älter sind – in vielen Fällen Familien und Kinder haben. Dagegen könnte man etwas tun, indem zum Beispiel Teilzeitstudiengänge an den Hochschulen ausgebaut würden. Bei anderen ergeben sich schlicht neue Karriereperspektiven, etwa der Aufstieg im Betrieb. Wichtigster Aspekt sind indes Leistungsgründe und Fehlentscheidungen. Hier sind die Hochschulen gefordert, ihre Informations- und Beratungsangebote für beruflich qualifizierte Studierende sowie die Unterstützung vor und nach Studienaufnahme noch auszubauen.

  • E&W: Die Forderung nach mehr Durchlässigkeit wird auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels erhoben.

Wolter: Der Arbeitsmarkt spielt eine Rolle, weil hochqualifizierte Fachkräfte ausgebildet werden können, die sich durch das besondere Profil der Verbindung von Berufsabschluss, beruflicher Qualifikation und Erfahrung mit Wissenschaftskompetenz auszeichnen. Wenn eine gelernte Krankenschwester Medizin studiert, dann ist das ein besonderes Profil. Die Öffnung des Hochschulzugangs wird den Mangel bei Fachkräften mit Hochschulabschluss wegen der relativ niedrigen Zahlen der nicht traditionell Studierenden aber nicht beseitigen können.

  • E&W: Der Wissenschaftsrat empfahl 2014 auch einen Ausbau hybrider Formate.

Wolter: Hybride Angebote wie duale Studiengänge sind ganz wichtig. Ihre Einführung hat sich als Erfolgsmodell herausgestellt und ist hochgradig attraktiv sowohl für Unternehmen als auch für Studierende. Aber es trägt nur wenig zur Durchlässigkeit bei, weil die große Mehrzahl der Studierenden dort mit dem Abitur an die Hochschule kommt und der Öffnungseffekt gering ist.

  • E&W: Wir haben viel über Verbesserungsbedarf gesprochen: Was läuft denn gut?

Wolter: Neben einer im Vergleich zu den vergangenen Jahren größeren Offenheit Nicht-Abiturienten gegenüber und einigen engagierten Hochschulen sehen wir deutliche Fortschritte in einem anderen Sektor: Das betrifft die Anrechnung beruflicher Qualifikationen auf Studiengänge. Das war vor 20 Jahren noch kein Thema, inzwischen bemühen sich viele Hochschulen um die Entwicklung spezieller Verfahren. Es gibt auch mehr berufsorientierte Studienangebote, die ein spezielles Angebot für beruflich qualifizierte Studierende darstellen. Hier hat der Bund-Länder-Wettbewerb „Offene Hochschulen“ einiges bewirkt.

  • E&W: Wie wichtig ist auch die gleiche gesellschaftliche Wertschätzung für beide Bildungsbereiche?

Wolter: Die politische Formulierung ist immer die der Gleichwertigkeit beruflicher und hochschulischer Bildung. Das ist auch ein wichtiges Ziel, wenn es um die Anerkennung der Leistung der beruflichen Bildung geht. Aber es ist eine gewisse rhetorische Formel, weil unsere empirische Realität von einer solchen Gleichwertigkeit weit weg ist. Natürlich kann es sein, dass jemand, der einen beruflichen Fortbildungsabschluss hat und ein erfolgreiches Unternehmen gründet, mehr verdient als eine Absolventin oder ein Absolvent aus einem Studienfach mit prekären Arbeitsmarktaussichten. Aber insgesamt ist es so, dass Hochschulabsolventen mit Blick auf monetäre Bildungserträge im statistischen Durchschnitt weit von dem einer beruflichen Ausbildung entfernt sind.

  • E&W: Könnte mit mehr Durchlässigkeit von beruflicher und akademischer Bildung die hohe soziale Abhängigkeit des schulischen Bildungswegs korrigiert werden?

Wolter: Ein bisschen. Wir haben in unserer Studie die Bildungsherkunft aller Gruppen verglichen und festgestellt, dass kein Zugangsweg zur Hochschule sozial so offen ist wie der für beruflich qualifizierte Studierende ohne Abitur. Aber eine Korrektur der sozialen Ungleichheit in der Beteiligung an Hochschulbildung auf diesem Weg zu erreichen, ist schwierig. Ein Anteil von rund 3 Prozent ist zu wenig, um die massive Ungleichheit auf den anderen Zugangswegen aufzuheben. Dazu müsste man im Schulsystem ansetzen.