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Eine Schule für alle

Grundlage einer funktionierenden Demokratie

In diesem Jahr können wir zwei schulpolitisch relevante Jubiläen feiern: 100 Jahre Grundschule und 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention. Das ist Anlass, die verdrängte und tabuisierte Schulstrukturfrage wieder in den Fokus zu rücken.

Foto: Dominik Buschardt

Die Gründung der verpflichtenden Grundschule vor 100 Jahren hing eng mit der sich entwickelnden Demokratie der Weimarer Republik zusammen. Die Kriegserfahrungen, die Menschen aller Schichten zusammenbrachten, sowie die Überwindung des Kaiserreiches mündeten im Bereich der Bildung in Forderungen nach einem demokratischen Schulsystem, das schließlich in die am 14. August 1919 verkündete Weimarer Verfassung Eingang fand.

Der Bund entschiedener Schulreformer, der unter anderem von der Reformpädagogin Hildegard Wegscheider und ihren Kollegen Fritz Karsen und Paul Oestreich gegründet wurde, setzte sich damals für eine Einheitsschule für alle Kinder und Jugendlichen bis zum Ende der Volksschulzeit ein. Erklärtes Ziel war, den „Gemeinsinn“ in der Demokratie zu fördern. Die Schulreformerinnen und -reformer kämpften dabei „gegen den Geist des Militarismus, gegen Völker-, Rassen- und Konfessionsverhetzung, gegen alle Ungerechtigkeiten sozialer Privilegierungen und willkürlicher Machtansprüche“.

Das gemeinsame Lernen aller Kinder wurde als Grundbaustein einer funktionierenden Demokratie gesehen. Schon früh wandten sich konservative Kräfte – wie der Berliner Bund der Philologen – gegen diese Überlegungen. Sie setzten auf Elitebildung und eine Wahrung der Schichtgrenzen. So ist die vierjährige Grundschule Erfolg und Misserfolg zugleich. Ein Erfolg, da zumindest eine verpflichtende Grundschule für Kinder aller gesellschaftlichen Schichten geschaffen wurde. Ein Misserfolg, weil das gemeinsame Lernen aller Kinder bis zum Ende der Volksschulpflicht nicht -erreicht werden konnte.

Die besondere Bedeutung einer entwicklungsbezogenen Grundschulpädagogik findet leider in der öffentlichen Wahrnehmung viel zu wenig Beachtung.

Bis das Ziel eines vollständig demokratischen und gerechten Schulwesens erreicht wird, ist es folglich noch immer ein weiter Weg. Die Chance, nach der Wende im geeinten Deutschland nach neuen Wegen einer gemeinsamen Schulreform zu suchen und auch positive Aspekte der Oberschule der DDR aufzunehmen, wurde verpasst. Das Westsystem in seiner Widersprüchlichkeit und mit seiner sozialen Selektionsfunktion wurde ohne Veränderung auf die neuen Bundesländer übertragen.

Nach wie vor hat die Grundschule deshalb die höchst widersprüchliche Aufgabe, einerseits alle Kinder individuell zu fördern und sie andererseits auf ein hierarchisch gegliedertes Schulsystem vorzubereiten. Ihre Aufgabe erfüllt sie unter den Bedingungen einer chronischen Unterfinanzierung, die oft mit schwierigen Arbeitsbedingungen einhergeht.

Nichtsdestotrotz ist die Grundschule im internationalen Vergleich die Schulform in Deutschland, die in puncto Lernzuwachs und Bildungsgerechtigkeit die größten Erfolge erzielt. Dies hängt auch mit dem hohen Engagement und dem Berufsethos der Lehrkräfte zusammen. Die besondere Bedeutung einer entwicklungsbezogenen Grundschulpädagogik findet leider in der öffentlichen Wahrnehmung viel zu wenig Beachtung. Das 100. Jubiläum ist eine gute Gelegenheit, sich auch in der Politik näher mit dieser Schulform und ihren Leistungen zu beschäftigen.

Die Grundschule blieb nicht nur aufgrund ihrer verkürzten Dauer eine halbe Reform. Schon vor ihrer Gründung wurden in vielen deutschen Ländern Hilfsschulen für sogenannte schwach begabte Schülerinnen und Schüler eingerichtet. Diese Entwicklung fiel mit der zunehmenden Industrialisierung und der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten zusammen. Viele Kinder von Tagelöhnern und Fabrikarbeitern befanden sich damals in einem schlechten Gesundheitszustand.

In den Überlegungen der Hilfsschulgründer spielten diese sozialen Hintergründe allerdings keine Rolle. Stattdessen wurden die sozialen Unterschiede – im Sinne des Ständedenkens – als vorbestimmtes Schicksal gesehen. Dieser Blickwinkel übertrug sich auch auf das Begabungskonzept, das nach dem Ende des Kaiserreiches an die Stelle des Ständedenkens trat. Mithilfe von Intelligenztests wurde den betroffenen Kindern nun eine „Minderbegabung“ bescheinigt und damit ihre soziale Auslese legitimiert. Dass diese nicht in erster Linie dem Wohl der Kinder, sondern eher der Entlastung der allgemeinbildenden Schulen dienen sollte, zeigte sich überdeutlich in der Zeit des Nationalsozialismus. Sonderpädagogische Diagnostik diente hier als Hilfsinstrument der „Rassenhygiene“.

Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass die eine inklusive Schule für alle Kinder und Jugendlichen endlich überall Realität wird.

Kinder mit medizinisch nachweisbaren Behinderungen wurden auch nach der Gründung der allgemeinen Grundschule nicht schulpflichtig. Sie konnten private oder staatliche Einrichtungen für Sinnesbeeinträchtigte oder körperlich Behinderte besuchen. Im Nationalsozialismus hatten sie kein Recht auf einen Schulbesuch. Die entsprechenden Schulen wurden geschlossen, unzählige Kinder und Jugendliche ermordet. Kinder mit geistigen Behinderungen hatten im Westen bis in die 1970er-Jahre und im Osten bis zur Wende „schulfrei“. Die Einführung der Schulpflicht auch für diese Mädchen und Jungen führte zur Gründung entsprechender Sonderschulen.

Deutschland gehörte lange zu den Ländern mit dem am stärksten ausdifferenzierten System an Sondereinrichtungen. Hierzulande tut man sich oft noch schwer mit der rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Deshalb war die Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) durch die Bundesregierung, die am 26. März 2009 hierzulande in Kraft trat, für viele eine echte Herausforderung. Denn sie fordert ein inklusives Schulsystem und wendet sich dagegen, dass Kinder mit Behinderungen aus dem allgemeinen Schulwesen ausgeschlossen werden. Stattdessen geht sie von einem gemeinsamen Schulsystem für alle aus.

Zehn Jahre sind nun seit der Ratifizierung der UN-BRK vergangen. Schulgesetze wurden geändert und in vielen Bundesländern Strukturen verändert. Das geschah jedoch meist halbherzig und ohne Bereitstellung der notwendigen personellen und materiellen Ressourcen. Auch die inklusive Reform der Lehrerbildung ist bei weitem nicht flächendeckend umgesetzt.

Die GEW wird weiter den Finger in die Wunde legen. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass die eine inklusive Schule für alle Kinder und Jugendlichen endlich überall Realität wird. Besonders in einer Zeit, in der in vielen Staaten autoritäre Führer nach der Macht greifen, Minderheiten diskriminiert und ausgegrenzt werden und auch in Deutschland antidemokratische Tendenzen zunehmen, müssen wir dringend das Fundament einer lebendigen Demokratie stärken: die inklusive, demokratische Schule – verstanden im Sinne eines solidarischen Miteinanderlernens aller Kinder und Jugendlichen und einer fortgesetzten Übung in Toleranz und gegenseitigem Verständnis.