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Coronapandemie

Greenscreen und Screencast

Seit der Schließung ringen viele Schulen darum, den Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern nicht zu verlieren. Viele Lehrkräfte denken dabei das Lernen ganz neu.

In der Corona-Zeit mussten Lehrkräfte ihre Lernmethoden umstellen. (Foto: mauritius images/Zoonar GmbH/Alamy)

Leila Alhag war überrascht, als sie ein Bündel mit Dutzenden Seiten aus dem Briefkasten fischte. Es waren Arbeitsblätter für ihre Tochter Jana, 10, die gerade die 4. Klasse besucht – eine entscheidende Phase, denn der Sprung zum Gymnasium soll geschafft werden. Aber sich allein durch den Stapel an Seiten zu kämpfen, fällt Jana schwer. Ihre Mutter Leila, die 2014 aus Damaskus fliehen musste, kann sie nicht unterstützen. „Ich verstehe das meiste nicht“, sagt die 30-Jährige.

Wie bei den Alhags sieht es in vielen Elternhäusern aus. Auch nach der teilweisen Öffnung der Schulen ist die Bildungsrepublik tief gespalten. Einerseits mutieren Eltern zu Hilfslehrern, weil Lehrkräfte die Familien mit Arbeitsblättern oder PDFs regelrecht fluten. Es finden sich andererseits aber auch Beispiele großer Kreativität. In vielen Schulen bildet sich ein neues Verständnis von Lernen heraus. Corona macht aus der Pauk- immer öfter die Selbstlernschule.

Corona lehrt anders

Valentin Helling ist einer derjenigen, die anders arbeiten. Der Lehrer der Alemannenschule im badischen Wutöschingen verschickt jeden Abend eine Aufgabe, er nennt es: Challenge. Helling spricht bewusst nicht von Schülerinnen oder Schülern, sondern von Lernpartnern, sich selbst bezeichnet er als Lernbegleiter. „Ich sage meinen Lernpartnern ganz bewusst nicht, ‚macht da bitte mit‘“, betont der Lehrer. „Die Challenges sollen die Fantasie anregen, nicht meine Ansage soll das erreichen.“ Der Erfolg der Challenges in Form von Texten oder Clips, bei denen schon mal ein Dinosaurier durchs Bild läuft, ist groß. Das mindeste an Beteiligung war, dass 12 seiner 18 Lernpartner eine Antwort an ihn zurück gepostet haben.

Die Corona-Aufgaben der Alemannenschule und vieler anderer digitalaffiner Schulen folgen einem ähnlichen Muster: Es ist wenig offensichtlicher Lehrstoff darin enthalten, zunächst steht der Kontakt zu den Schülern im Fokus. Häufig gehört Beherrschung der Medien dazu – etwa in einer Aufgabe wie dieser für Sechst- bis Achtklässler, die die meisten Erwachsenen wohl überfordern würde: „Suche dir ein Greenscreen-fähiges Video eines exotischen Tieres auf YouTube. Lade das Video he-runter oder mache davon einen Screencast. Lass das Tier nun vor deinem Haus oder im Garten herumlaufen. Exportiere das Video als .mp4.“

Eingefleischten Studienräten genügen solche Präsentationskompetenzen meist nicht. Sie erwarten das gründliche Verständnis des Stoffes. Schülerinnen und Schüler müssen jedoch, wie es das höchste Kompetenzniveau bei den PISA-Studien verlangt, nicht nur die Materie selbst aus dem Effeff beherrschen. Sie sollen sie diskutieren und sich eine eigene Meinung dazu bilden können. Kann digitales Fernlernen also auch „deep learning“ sein?

Wie geht es den Lehrkräften in Mecklenburg-Vorpommern in der Homeschooling-Phase in Corona-Zeiten? Genau das wollten Maik Walm, Co-Landesvorsitzender der GEW im Nordosten, und sein Team herausfinden. Sie starteten deshalb eine Online-Befragung, die neben Daten und Fakten Stimmungsbilder einsammelte. Die Ausgangssituation war im Nordosten wie überall in der Republik: „Ohne jegliche Vorbereitung und zum großen Teil ohne die Möglichkeit, sich voneinander zu verabschieden, standen die Kinder, Jugendlichen und ihre Lehrkräfte von einem Tag zum anderen vor der Aufgabe, ein selbst organisiertes Lernsystem aufzubauen“, berichtet Walm.

Ein Lehrer beschreibt die Ausgangssituation so: „Die meisten Materialien liegen nicht digital vor und müssen mühsam digitalisiert werden. Ständig erfinden wir – jeder für sich – einen Haufen Räder neu. Richtig übel: Digitalisierungsgelder sind – an keiner Stelle – für das nutzbar, was nötig wäre: Anschaffung von Geräten, Ausbildung von Lehrer*innen, Erstellung, Beschaffung digitaler Materialien.“

„Viele Eltern haben nicht das Know-how, mit den digitalen Angeboten umzugehen, daher partizipieren die Kinder sehr unterschiedlich.“

Die Lehrkräfte betonen vor allem den Aspekt Chancenungleichheit: „Viele Eltern haben nicht das Know-how, mit den digitalen Angeboten umzugehen, daher partizipieren die Kinder sehr unterschiedlich. Für die Kinder, welche einen sehr hohen Förderbedarf haben, sind diese Lernformen ungeeignet. Sie werden im Vergleich zu ihren Mitschülern nur einen minimalen Lernfortschritt wenn nicht sogar einen Lernrückschritt verzeichnen.“

Trotz aller Schwierigkeiten, die Lehrkräfte im Land der 1.000 Seen erkunden auch die neuen Chancen für die rund 185.000 Schüler: „Wann, wenn nicht jetzt: Schule neu denken, System umbauen. Wir erleben gerade das größte Bildungsexperiment der letzten Jahrzehnte“, erläuterte einer der befragten Lehrer.          

Klaus Heimann, freier Journalist

Brit Mühmert hat diese Erfahrung gemacht – und zwar da, wo man sie nicht ohne weiteres erwarten würde: in Chats. In einer 10. Klasse veranstaltete Mühmert, die Schulleiterin des Paul-Gerhardt-Gymnasiums im brandenburgischen Lübben ist, mit ihren Schülern einen Poetry-Slam. Die Jugendlichen sollten eigene Gedichte schreiben und im Chat bereitstellen. Und mit einer 11. Klasse wagte sie sich sogar an die Interpretation von „Nathan der Weise“ heran. Zu ihrer Überraschung befassten sich im Chat mehr Schüler mit dem Lessing-Stück als im analogen Gespräch im Klassenzimmer. „Man kann sagen, dass sich zum Teil 80 Prozent der Kursmitglieder aktiv beteiligten“, berichtet Mühmert. Es sei dabei auch „zu tiefgründigeren inhaltlichen Auseinandersetzungen“ gekommen.

Die Deutschlehrerin erklärt sich das so: Kurze und einfache Kommunikationswege wie der Chat haben eine pädagogische Komponente. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis werde unkompliziert vertieft, mit mehr Mut sich auszutauschen. Und wer sich nicht „traut“, im offenen Chat zu kommunizieren, der macht es parallel individuell mit der Lehrkraft. So werden Potenziale und Motivationen einzelner für die Unterrichtsinhalte gestärkt.

Freiheit zum Selbsterkunden

Ein anspruchsvolles Projekt hat auch der Englisch- und Informatiklehrer Thomas Rau aus Bayern in Angriff genommen. Der Lehrer des Graf-Rasso-Gymnasiums in Fürstenfeldbruck ließ seine Schülerinnen und Schüler mit einem Roman arbeiten, bei dem die Heldin Coraline im Wohnzimmer ihres Elternhauses eine Tür öffnet und plötzlich in eine Parallelwelt eintaucht. Die Schüler von Raus 9. Klasse hatten nun zwei Aufträge. Aufgabe 1: ein von Rau angelegtes Computerspiel für die Anordnung der Zimmer in der Parallelwelt weiter programmieren. Aufgabe 2: den Roman für diesen Strang der Story selbst weiterschreiben. „Die Handlung des Buchs eignet sich besonders gut für ein traditionelles Textadventure, auch Interactive fiction genannt“, sagt der Lehrer. „Es handelt in einer relativ überschaubaren Welt, dennoch spielt Exploration eine große Rolle.“

Exploration, das Erkunden und Erforschen von Unbekanntem und Neuem – das ist so etwas wie das neue Leitmotiv des Lernens. Vielleicht kann man die Kernelemente einer gelungenen Aufgabe fürs Distanzlernen so fassen: Freiheit zum Selbsterkunden; Präsentieren als Teil der Lernleistung; Projektlernen zu Themen, die persönliche und gesellschaftliche Relevanz haben. Wenn man sich diese Elemente näher betrachtet, stellt man fest: Das ist nicht neu.

Lernideen der Reformpädagogik

Was Rau, Mühmert und Helling machen, ist tatsächlich kein neues Lernen, sondern ähnelt auf verblüffende Weise den Lernideen der Reformpädagogen: keine Stoffberge abtragen, sondern selbstbestimmte Projekte verwirklichen. Nicht pauken, sondern forschen als Grundidee des Lernens. Deutschland hat seit dem Kindergarten-Erfinder Friedrich Fröbel eine starke reformpädagogische Tradition. Der Unterschied ist, dass Fröbel seinerzeit allein auf weiter Flur war, die Idee von der Selbstbestimmtheit der Schülerinnen und Schüler nun aber plötzlich so etwas wie Mainstream zu werden scheint. Zwei Drittel der Lehrkräfte gaben in einer repräsentativen Umfrage der Bosch-Stiftung an, sie wollten „Schülerinnen und Schüler künftig stärker dazu befähigen, mehr Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen“. Oder anders gesagt: Noch nie gab es so viele Reformpädagogen wie heute.

Und es kommt noch etwas hinzu. Die digitalen Reformpädagogen verstecken ihre nachhaltige Lernpraxis nicht. Sie sind vernetzter als es Lehrkräfte je zuvor sein konnten. Es ist heute für einen Lehrer aus Cloppenburg ein leichtes, mit einer Schulleiterin aus Gmund am Tegernsee Gemeinsamkeiten und Anregung zu finden – obwohl sich die beiden physisch nie begegnet sind. Und so verdichtete sich das Netzwerk der Digitalnerds und Lehrerblogger, der Education-Chats und Twitterlehrerzimmer bereits in den ersten Tagen der Schulschließung. Die bestehenden Portale und Blogs bekamen mehr Aufmerksamkeit. Etwa der Lernblog des „Netzlehrers“ Bob Blume, der im April 180.000 Abrufe hatte – eine Verdopplung im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Gleichzeitig schossen neue Webseiten mit Linklisten und Erklärvideos bestehender Tools digitalen Lernens nur so aus dem Boden.

Vielleicht steht das Schulsystem also, infiziert von Corona, vor dem Wiederbeginn einer Reform des Lernens. Nicht wenige Lehrkräfte und Schulleitungen denken so. Schulleiterin Mühmert ist eine von ihnen. Wie so viele fände sie es schade, wenn der Anstoß durch Corona verpuffen würde. Bei ihrem Nathan erwachten im Chat plötzlich Schüler, die sich im Klassenzimmer sonst fast nie melden. Das hat ihr das Potenzial des neuen Lernens vor Augen geführt. „Das gilt es nach der Schulschließung, in der Verbindung zwischen analogem und digitalem Unterricht, zu stärken und auszubauen“, sagt Mühmert.

Der Englisch- und Informatiklehrer Thomas Rau aus Bayern nutzt die digitale Technik, um seine beiden Unterrichtsfächer zu verbinden. (Foto: Y. Born)