Zum Inhalt springen

Forum 1: Der Hunger nach Aufstieg - Chancengleichheit ohne Standesdünkel

Unter dem Untertitel "Elf gewerkschaftliche Thesen zum öffentlichen Diskurs über Akademisierung und berufliche Bildung" diskutierten Antonia Kühn vom DGB NRW in Düsseldorf und Sirikit Krone vom Institut für Arbeit und Qualifikation in Duisburg.

Foto: Kay Herschelmann

Grundsätzlich wird von allen Teilnehmer*Innen des Forums sehr positiv begrüßt, dass die Gewerkschaften mit diesem Thesen- und Positionspapier eine notwendige Debatte anstoßen. Diskussion und Kritikpunkte ergeben sich an einzelnen Thesen, weil einige Begriffe nicht genügend reflektiert erscheinen und nur zwei Systeme verglichen werden, während der gesellschaftliche Kontext der Debatte weitgehend unberücksichtigt bleibt.

Die von Antonia Kühn auf der Grundlage des Diskussionspapiers des DGB-NRW vorgetragenen Thesen (siehe Präsentation) wurden zunächst von Sirikit Krone und anschließend vom Plenum wie folgt kritisch bewertet und kommentiert.

Diskussionspunkte zu den Thesen 1 bis 3:

These 1: Zwar beginnen 50 % eines Jahrgangs ein Studium, das heißt aber nicht, dass sie dieses Studium auch abschließen. Antonia Kühn weist hier darauf hin, dass zu den Studienabbruchquoten bisher kaum belastbare Daten vorliegen.

These 2: Richtig ist, dass die außerhochschulische Fortbildung in Deutschland ein hohes Niveau hat und Karriereperspektiven eröffnet, aber dennoch wird die Attraktivität der Hochschule von Schüler*Innen und Eltern höher eingeschätzt; deshalb ist es wichtig, die Attraktivität der beruflichen Bildung zu stärken.

These 3: Das Verhalten der Hochschulen kann nicht allein mit Angst vor Statusverlust erklärt werden, denn die Öffnung der Hochschulen bedeutet auch, dass Hochschulen es nicht mehr allein mit einer intellektuellen Elite zu tun haben, d.h. Fähigkeiten zum Umgang mit Heterogenität gefordert sind.

 Weitergehende Diskussionspunkte hierzu:

  • Gleichwertigkeit ist zunächst ein politisches Postulat. Es muss differenziert werden, was in Bezug worauf gleichwertig sein soll und was dafür getan werden muss. Die Kompetenzen in der Berufsbildung müssen ein gleichwertiges Niveau erreichen, wobei es nicht um Wissensbestände gehen sollte, sondern um die Frage, welche Probleme z.B. Ingenieure und Meister lösen können. Höhere Lebenseinkommen erscheinen selbstverständlich, weil betrieblich-berufliche und akademische Wissensbestände von der Gesellschaft unterschiedlich bewertet werden. Diese Bewertung beruht auch auf Erfahrung. Wichtig ist auch die Frage, warum Unternehmen Mitarbeiter*Innen aus beiden Bereichen rekrutieren.
  • Die alte, überwunden geglaubte Debatte um Anlage und Umwelt wird wieder neu belebt, wenn Genetiker*Innen und Neurowissenschaftler*Innen die Ursachen von Ungleichheit erforschen. Eine Wiederbelebung der Begabungsdiskussion wirkt erschreckend.
  • These 1 müsste mit einem Fragezeichen versehen werden, denn ein bloßer Vergleich von Anfängerzahlen sagt nichts darüber aus, welche Abschlüsse oder Kompetenzen am Ende stehen: Viele Abiturient*Innen beginnen eine duale Ausbildung, viele Studierende haben einen dualen Abschluss, einige Jugendliche wollen mit einem längeren Schulbesuch der Konfrontation mit der Realität ausweichen. Das Problem besteht weniger in der Akademisierung der beruflichen Bildung als im Anteil der Jugendlichen, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden. Notwendig ist eine bessere Berufs- und Studienorientierung in den Schulen.
  • Der Begriff „Höherwertigkeit“ wird problematisiert: Die OECD hat mittlerweile ihre Meinung geändert, bleibt allerdings weiterhin bei ihrer Behauptung, dass höhere Qualifikationen für die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft erforderlich sind und zu höheren Lebenseinkommen führen. Höherwertigkeit und höhere Lebenseinkommen sind aber sehr differenziert zu sehen, auch weil nicht klar ist, wie beruflicher Erfolg letztlich gemessen werden kann. Das deutsche duale System ist auch nicht wirklich ein Exportschlager: Die Umsetzung scheitert an fehlender Sozialpartnerschaft, nationalen Schulsystemen und fehlender Ausbildungstradition in den Unternehmen.
  • Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit und das Gratifikationssystem für dual Ausgebildete müssen gestärkt werden, ebenso die Durchlässigkeit. Dabei sollten die Profile der beiden Ausbil-dungswege nicht vermischt werden, denn es gibt auch viele anspruchsvolle duale Ausbil-dungsberufe. Die Stärken der dualen Berufsausbildung werden nicht ausreichend gesehen – beruflich Qualifizierte müssen an der Hochschule nicht automatisch scheitern. Die Berufsschule sollte zwar differenzierte Angebote machen, dabei aber nicht in erster Linie mehr Aufgaben zur Förderung der Studierfähigkeit übernehmen, sondern eher bei der Integration von Schwächeren ansetzen.
  • Welcher Bildungsbegriff wird zugrunde gelegt? Das Verständnis von Bildung und Lernen, hier insbesondere die Wertigkeit des erfahrungsorientierten, informellen Lernens, die Relativierung von Theorie und kognitiven Fähigkeiten werden diskutiert und eine stärkere Bildung im Medium des Berufs gefordert, wie sie in NRW z.B. im Schulbesuch Kollegschule/Herwig Blankertz entwickelt wurde. Bildung muss neu definiert werden, sie findet nicht nur in der Schule statt.

Aus Zeitgründen werden die Thesen 4 bis 11 im Block vorgetragen und anschließend wie folgt kommentiert:

Für Sirikit Krone ist der Prozess der Akademisierung nicht wirklich unumkehrbar und es gibt einen Gestaltungsraum durch richtige Anreize. Sie sieht einen Widerspruch zwischen behaupteter Gleichwertigkeit und der Forderung, dass alle in den Genuss akademischer Bildung kommen sollen. Die Einbeziehung der unversorgten Jugendlichen in die Akademisierungsdebatte hält sie nicht für sinnvoll. Eine Verbesserung der Chancengleichheit muss bereits in der frühkindlichen Bildung beginnen, nicht erst beim Übergang in die berufliche Bildung.

Im Plenum wird diskutiert, ob sich hier nicht zu leicht eine "Illusion der Chancengleichheit" ergibt. Das untere Segment – auch wenn der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss erheblich reduziert wurde - wird dauerhaft bestehen bleiben. Es wird kritisch hinterfragt, warum Gewerkschaften unter dem Aspekt Gleichwertigkeit nicht „Master = Meister“, „Geselle = Bachelor“ gefordert haben.

Der Wunsch nach Aufstieg ist nicht Ausdruck freier Entscheidungen, sondern Folge des zunehmenden Prekariats (Agenda 2010) und der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft. Die Gewerkschaften begründen die Notwendigkeit der Höherqualifizierung mit der Entwicklung des Beschäftigungssystems, aber einige Arbeitsmarktstudien zeigen eine wachsende Polarisierung und ein Anwachsen der unqualifizierten Tätigkeiten. Es stellt sich die Grundsatzfrage, ob wir wirklich glauben, mit Bildung mehr Gleichheit erzeugen zu können.

Abschließende Kommentare:

  • Bei Lehrkräften und Schüler*Innen an allgemeinbildenden Schulen bestehen erhebliche Informationsdefizite über die Möglichkeiten der dualen und schulischen Berufsausbildung. Eltern haben Angst, dass ihre Kinder ohne Abitur schlechtere Berufschancen haben.
  • Warum zeigen junge Menschen kaum noch Neugier, Gestaltungswillen und Begeisterung? Welche Auswirkungen haben Selektion und Demotivation ab der 4. Klasse?
  • Die Anschlussfähigkeit der beruflichen Bildung muss nicht nur formal, sondern auch curricular hergestellt werden.
  • Wie offen ist das Hochschulsystem wirklich? Welche konkreten Auswirkungen ergeben sich aus der Akademisierung für das Hochschulsystem und die Arbeitswelt?
  • Innovationsfähigkeit ergibt sich gerade aus dem Zusammenspiel unterschiedlich qualifizierter Arbeitnehmer*Innen.