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Inklusion am Gymnasium

Eine Grenzerfahrung

Inklusion kann man nicht von heute auf morgen einführen wie ein neues Lehrwerk. Diese Erfahrung hat auch unsere Autorin machen müssen. Schon nach wenigen Stunden sei sie an ihre Grenzen gekommen, berichtet sie.

Die Umstellung auf eine Regelschule fällt blinden Schülern oft schwer, auch die Lehrkräfte geraten dabei an ihre Grenzen. Foto: picture alliance/Wavebreak Media

„Ach ja, Karla, in deinen Mathekurs kommt auch die neue blinde Schülerin.“ Im Vorbeigehen erfahre ich einige Wochen vor Schuljahresbeginn, welch Herausforderung mich bald in meiner Oberstufenklasse erwartet. Eine blinde Schülerin an unserer Schule – das gab es bisher noch nie. Ich fühle mich überfordert, bevor ich das Mädchen überhaupt kennengelernt habe. Dabei ist mir Inklusion nicht fremd – mit Hilfe von Schlafbrillen und Kopfhörern erfahren die Schüler in meinem Biologieunterricht in kleinen Projekten, wie blinde bzw. taube Schülerinnen und Schüler die Welt wahrnehmen. Hinterher überlegen wir uns, ob unsere Form des Unterrichts für Schüler mit Handicap geeignet wäre. Man nehme ein Buch in Blindenschrift, für die Orientierung einen Blindenstock oder Blindenhund („Das wär doch toll, so ein Tier in der Schule!“), schwups, so einfach ist Inklusion. Hach, was waren wir naiv!

Fachlich nicht ausgebildet

Die Schüler, die wenige Monate zuvor noch Blindheit simuliert haben, sind zufälligerweise genau die Schüler, die nun neben ihrer neuen Mitschülerin Lisa (Name geändert) sitzen. Die ist so alt wie sie, hat ähnliche Hobbys, ist erst vor kurzem in unsere Stadt gezogen – und ist blind. Lisa soll so normal wie möglich am Schulalltag teilnehmen, so der verständliche Wunsch des Schulleiters und des betreuenden Förderlehrers. Dieser ist zwei Tage in der Woche an unserer Schule. Außerdem unterstützt eine Schulbegleiterin Lisa täglich, indem sie unter anderem Arbeitsblätter der Lehrer in Blindenschrift übersetzt. Ich bereite also ganz normalen Unterricht vor.

Schon nach wenigen Stunden komme ich jedoch an meine Grenzen: Bei Zufallsversuchen sollen Schüler bunte Kugeln aus Beuteln ziehen oder untersuchen, auf welche Seite eine Streichholzschachtel am häufigsten fällt. Hinterher zeichnen sie dazu passende Baumdiagramme. Lisa sieht weder die Farben der Kugeln noch die Streichholzschachteln; die Diagramme an der Tafel natürlich auch nicht. Sie braucht für die vielen visuellen Eindrücke „Dolmetscher“, die beschreiben, was zu sehen ist. Manchmal sind das ihre Mitschüler, die sie auch in neue Klassenräume führen (den niedlichen Blindenhund gibt es nicht, und im Gewusel der Pause ist auch ein Blindenstock nicht immer hilfreich). Häufig sitzt neben Lisa der Förderlehrer oder ihre Schulbegleiterin, ausgestattet mit speziellen Hilfsmitteln für Sehbehinderte. Zum Beispiel extra Zeichenbretter. Darauf kann man Linien zeichnen, die emporgehoben sind, so dass Lisa mit den Fingern Diagramme ertasten kann. Nun müsste doch alles klappen – theoretisch zumindest ...

Überforderung im Alltag

Praktisch leider nicht. Als Gymnasiallehrerin bin ich wie meine Kolleginnen und Kollegen einfach nicht ausgebildet für Schüler mit Förderbedarf. Der Sportlehrer zweifelt, ob Lisa beim Fußball mitspielen kann. Ich frage mich, wie man ohne zu sehen Graphen zeichnen soll. Dem Physiklehrer fällt es schwer, Experimente vorzuführen, wenn eine Schülerin diese nicht sehen kann. Bei all diesen Problemen hilft auch die etliche Monate nach Schuljahresbeginn angebotene vierstündige Fortbildung nicht viel. Schließlich dauert der Studiengang der Sonderpädagogik nicht umsonst etwa fünf Jahre.

Und wie geht es eigentlich Lisa dabei? Sie wurde uns von ihrer ehemaligen Schule als gute, fröhliche und aktive Schülerin beschrieben. Wir neuen Lehrer erleben Lisa komplett anders: still und zurückhaltend, von Fröhlichkeit keine Spur. So einen „Umschwung“ erfahren auch Kinder ohne Beeinträchtigung. Nur ist die Ursachenforschung bei Lisa komplizierter: Lisa fehlt der alte Wohnort, wo ihre langjährigen Freunde leben. Außerdem muss sie sich in der fremden Stadt alle Wege neu erarbeiten. Dadurch ist sie wieder mehr auf fremde Hilfe angewiesen – und dies in einem Alter, in dem man für gewöhnlich immer selbstständiger wird (wer möchte schließlich mit 16 Jahren noch von der kleinen Schwester zur Schule geführt werden?).

Nicht zuletzt ist der Unterricht in der Oberstufe anspruchsvoller im Vergleich zur Mittelstufe. Die Lehrbuchtexte sind umfangreicher, das Lesen in Blindenschrift dauert aber länger als das Lesen bei Sehenden. Wenn Lisa das richtige Arbeitsblatt auf dem Laptop gefunden und bearbeitet hat, stellen die Mitschüler bereits die Antworten zu den Aufgaben vor. Ihr Schultag ist viel anstrengender als der ihrer Mitschüler. Kein Wunder also, dass sie nach der Schule mehrere Stunden schläft. So bleibt wenig Zeit für Hobbys oder neue Freundschaften; Lisa fehlen ein Ausgleich und gemeinsame Unternehmungen mit ihren Mitschülern. Alle sind nett und hilfsbereit, engere Kontakte entwickeln sich jedoch nicht.

Gewachsen statt gescheitert

Das schwache Halbjahreszeugnis dokumentiert daher vermutlich weniger das Fachwissen als die unglücklichen Umstände. Dennoch: Mit schlechten Noten wird es mit der Versetzung nichts. Lisa möchte auf keinen Fall wiederholen, sondern wie ihre Mitschüler in einigen Jahren das häusliche Nest verlassen. Der Förderlehrer findet eine Lösung. Lisa wird zum neuen Schuljahr auf ein berufliches Gymnasium gehen, deren Schwerpunkte mehr zu ihren Interessen passen. Dieser Weg ist auch bei Sehenden nicht unüblich. Seitdem das Mädchen ein klares Ziel vor Augen hat, ist sie aktiver im Unterricht, schreibt bessere Noten, ist fröhlicher.

Es bleibt die unbequeme Frage, ob wir als Lehrer bzw. Schule an der Aufgabe „Inklusion“ gescheitert sind. Nein, finde ich. Wir sind nicht gescheitert, sondern – zumindest ein kleines bisschen – gewachsen. Inklusion kann man nicht von heute auf morgen einführen wie ein neues Lehrwerk (auch wenn ich bisweilen das Gefühl habe, dass genau dies von der Landesregierung gemacht wird). Aber wenn wieder ein Kind mit Handicap an unsere Schule kommen sollte, dann ist es für uns bereits ein wenig mehr Alltag.

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung aus dem Magazin „Schule“ (Ausgabe 4/2018) übernommen.