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Filmtipp

Ein Lehrer, der zuhört

Der Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ porträtiert die Beziehung zwischen einem Lehrer und einer 6. Klasse an einer Schule in Mittelhessen.

Für den Lehrer Dieter Bachmann stehen die Schülerinnen und Schüler im Fokus, nicht der Unterrichtsstoff. (Foto: Madonnen Film)

Ferhan* hat ein Problem. Das schüchterne, muslimische Mädchen, das nicht nur Kopftuch trägt, sondern sich dabei immerzu in ihrem übergroßen Parka zu verstecken scheint, wird regelmäßig von einer überwältigenden Traurigkeit und Melancholie befallen. Wenn es Ferhan überkommt, zieht sie sich in das scheußliche, hallende Treppenhaus ihrer Schule zurück und sitzt dort auf den Stufen, den Kopf gesenkt, als könne ihr Körper die Last des schweren Schädels nicht tragen.

Viele der Kinder oder Jugendlichen aus der Klasse von „Herrn Bachmann“ haben ein – und womöglich nicht nur ein – Problem. Djengis zum Beispiel, der immer herumalbert, Späße macht, um ernsthaften Antworten auszuweichen, sagt von sich, „ich bin dumm“. Und der kluge Aymen, der auf alles eine Antwort zu haben scheint, kämpft hie und da mit seiner Impulskontrolle. Die scheinbar so selbstbewusste, muntere Steffi ist erst vor kurzem aus Bulgarien gekommen und hat in wenigen Monaten ziemlich gut Deutsch gelernt – scheint das aber selbst überhaupt nicht so zu sehen.

Einfach die Kamera draufgehalten

„Herr Bachmann“, eigentlich Dieter Bachmann, ist die zentrale Figur dieses Dokumentarfilms von Maria Speth, aber nicht nur das. Er scheint der Fixstern dieser 6. Klasse zu sein, um den sich alles dreht. Ein grauhaariger, bärtiger, leicht lispelnder Mann, dessen vorsichtige Haltung auf ein Rückenleiden schließen lässt. Dieser in sich ruhende, schon ältere Mann sieht dem letzten Tag seines Arbeitslebens entgegen. Jedenfalls deutet sich das an, als all seine persönlichen Dinge am Ende des Films aus dem Klassenraum entfernt werden. Ganz klar ist das aber nicht.

Denn Speth erklärt nichts. Nicht, was das hier überhaupt für eine Schule ist, nicht, ob es sich um eine besondere Förderstufe handelt (sie ist es laut Pressematerial nicht). Auch „Herr Bachmann“ erhält im Film keine Gelegenheit zur verbalen Reflexion über sein Tun. So müssen sich die Kinobesucherinnen und -besucher die Zusammenhänge selbst erschließen und sich dabei ausschließlich auf das stützen, was sie sehen. Denn Filmerin Speth hat einfach die Kamera (Reinhold Vorschneider, der auch am Buch mitgearbeitet hat) draufgehalten. Über mehrere Monate begleitete ihr Team diese Klasse der Georg-Büchner-Schule in Stadtallendorf, einer kooperativen Gesamtschule, und schaute zu.

Ungewöhnlicher Unterricht

Im Kino entfaltet sich in 217 Minuten ein ungewöhnlicher „Unterricht“, von dem Speth womöglich auch eher die ungewöhnlicheren Teile jenseits des Lehrplans dokumentiert: Da wird Gitarre gespielt, gesungen, auf ein Schlagzeug eingedroschen, man sieht Breakdance-Einlagen, hört Gelächter, Geschrei und auch mal das Kommando: „So, eine Runde träumen!“ Dann legen alle den Kopf auf die Arme und sinnieren – oder schlafen einfach ein. Es kann auch sein, dass „Herr Bachmann“ seinen Schülerinnen und Schülern etwas vorsingt, zum Beispiel die tragische Geschichte von den beiden Bauernjungen Anton und Jakob, die beim Spiel im Fluss ihre Liebe zueinander entdecken … „Eklig“ finden das viele der Jugendlichen im anschließenden Gespräch. Nur die stille Rabia, die erst vor kurzem in die Klasse gekommen ist, sagt mit entwaffnender Schlichtheit: „Hauptsache, die lieben sich!“

Es ist faszinierend zuzusehen, wie nervös das Thema die Jugendlichen macht: „Können wir jetzt gehen?“, fragt Djengis. „Ich muss an die frische Luft, ich sterbe sonst.“ Aber Bachmann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, auch nicht, als Steffi ihn zur Rede stellt: „Das ist kein normales Lieben, so Mädchen mit Mädchen und Jungs mit Jungs, das ist eklig.“ – „Was ist daran denn eklig?“, will „Herr Bachmann“ wissen und Steffi weiß keine Antwort, sie windet sich und ringt mit sich, ganz offensichtlich berührt von dieser Frage, die sie beantworten will, aber nicht kann. Bachmann lässt nicht locker: „Hast du ein Gefühl von Ekel in dir drin oder sagst du das bloß so, weil du das mal gehört hast?“ Steffi zögernd: „Ich weiß es nicht.“ – „Das ist schon besser“, erwidert Bachmann und dann ist erst mal gut.

Fairness und Güte

Gespräche wie diese führt dieser Lehrer andauernd. Bei Bachmann, diesem ein wenig schrullig wirkenden Landfreak, der immer eine Mütze auf dem beinahe kahl rasierten Schädel trägt und Sweatshirts mit Aufschriften wie „RAW“, sind es eindeutig die Jugendlichen, die im Fokus stehen, nicht der Unterrichtsstoff. Er hört zu. Er will erfahren, was in ihnen vorgeht, mit welchen Problemen sie sich herumschlagen müssen, was sie beschäftigt. Wenn er ihnen etwas mitteilt, so wirkt das fast beiläufig, nicht belehrend, sondern eher Fragen stellend. Mühelos räumt er dabei eigene Fehler ein, wenn er eine Situation etwa falsch eingeschätzt hat. „Ach, so war das! Das habe ich falsch verstanden.“

„Herr Bachmann“ ist vermutlich kein idealer Lehrer. Denn wer oder was soll das schon sein? Andere Lehrkräfte in anderen Schulen und Schulformen sind möglicherweise von vielerlei Sachzwängen (und Lehrplänen) gebeutelt, die sich Bachmann nicht zu stellen scheinen (die Gitarren!, das Schlagzeug im Klassenzimmer!, die Breakdance-Einlagen!; die Option, auf eine Benotung zu verzichten!). Aber er scheint der richtige Mensch für diese Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren zu sein. Und diese Menschlichkeit, diese Fairness und Güte, die Zeit und Ruhe, die Wertschätzung, das Interesse – all das wünscht man möglichst vielen Schülerinnen und Schülern auf der ganzen Welt.

*Leider gibt das Presseheft keine Auskunft über die richtige Schreibweise der Namen der Schülerinnen und Schüler. Die Schreibweise in E&W beruht auf Hörverstehen.

Kinostart: 16. September 2021