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Drei Jahre Alexandria: Salam Tristesse!

Von 2009 bis 2012 war Barbara Collet als Lehrkraft an einer Privatschule in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria tätig und konnte in dieser Zeit die ägyptische Revolution miterleben. Am Ende zählte sie die Tage ihrer Rückkehr nach Deutschland.

Fotos: Barbara Collet, Manfred Brinkmann, Fotolia

Privatschulen konnte ich noch nie leiden. Schon nach dem Referendariat, zum ersten Mal arbeitslos, da keine Stelle im Staatsdienst für mich vakant war, wählte ich einen Job bei einer Zeitung und nicht einen Job in einer übrigens sehr bekannten Hamburger Privatschule. Bereits das Ambiente - sehr gut genährter Schulleiter in smartem Outfit mit einem äußerst autokratischen Habitus hinter luxuriösem Schreibtisch aus Mahagoni - wirkte abschreckend. Das vorgeschlagene Gehalt warf die Frage auf, warum ich eigentlich studiert und ein Referendariat absolviert hatte. Die Regeln der Schule ließen mich darüber grübeln, ob Privatschulen schon von der Einführung der Demokratie gehört hatten.

Das erste Mal wurde ich meiner Überzeugung aus pekuniären Gründen in Paris untreu, denn Frankreich steckte in einer Wirtschaftskrise und die deutschen Migranten bekamen eine Ahnung von der Situation in den USA 1932. Meine tiefe Aversion gegen Etablissements dieser Art wurde allerdings umgehend bestätigt. Der Chef, ein fetter Marokkaner entpuppte sich als sexistisch, geizig, geldgierig, hinterlistig und äußerst intrigant. Dank einer geschickten Verweigerungstaktik konnte ich mich nach fünf Monaten aus diesem Schlamassel unbeschadet retten und verließ die Schule, fröhlich und erleichtert.

Ausgerechnet Ägypten?

Was also hat mich umgetrieben, ausgerechnet in diesem Land Ägypten einen Job an einer Privatschule zu akzeptieren? In einem Land, in dem unverdrossen gefoltert wurde und Menschen- und Bürgerrechte praktisch keine Bedeutung haben? In einem Land mit welchem politischen System genau: dominiert von einer autoritären Herrschaft, wie die Medien erzählten? Oder war das Land doch durch eine Diktatur beherrscht? Andererseits: Angesichts des sich ausbreitenden Fundamentalismus konnte man eventuell auch autoritär - freundlich werden? War das System Mubarak in diesem Sinne nicht eigentlich positiv? Da die deutschen Medien sich nicht in der politischen Beurteilung dieses Landes einig wurden, konnte ich vor meiner Abreise nach Ägypten auch keine Antwort finden.

Zurückblickend würde ich sagen, dass ein Gemisch aus verschiedenen Gründen die Ursache meines Einverständnisses war: Nicht –Sehen- Wollen („Kann die ZfA wirklich eine so schlechte Schule anbieten??“), Abenteuerlust, der Wunsch, auch diese Herausforderung meistern zu können, ein geschmeicheltes Ego („Sie sind die Einzige, der wir zutrauen, dass Sie sich gegen diesen Manager der Schule und die konservativen Muslime durchsetzen können.“, - wenn das nicht schmeichelt??), Neues lernen, (fachlich und interkulturell). Der steuerfreie Zuschlag wirkte natürlich auch, die zunehmenden Studienkosten unseres Kindes nach dem Bachelor im Verhältnis zu der letzten Gehaltserhöhung aus dem Jahre 1991 (die Inflationsausgleichungen kann ich nicht als Gehaltserhöhung ansehen) überzeugten mich, nach vier Wochen Bedenkzeit „Ja“ zu sagen.

Schon der 22. August 2009, der Tag des Aufbruchs meines Mannes und mir in Hamburg, überstieg unsere schlimmsten Befürchtungen. Hätten wir den Zeichen zugehört, wären wir gar nicht erst losgefahren. Morgens hatte der Wecker nicht geklingelt. Dank eines cleveren Taxifahrers hetzten wir im allerletzten Moment zur Rollbahn und erreichten noch den Flieger. Für die Bücher im Werte von 800 €, die ich für den neuen Job und das Team gekauft hatte, musste ich 600 € zusätzliche Frachtkosten bezahlen. In Zürich versagte der Motor des Anschlussfliegers, wir waren erleichtert. Leider kamen wir dennoch an. Und die Erfahrungen des ersten Tages waren so, dass ich verzweifelt mit mir haderte, warum ich mich auf diesen Job eingelassen hatte. Ich gehe hier nicht in die Details. Nur so viel: Selten habe ich so wenig Gastfreundschaft und Herzlichkeit, so wenig Respekt und Präsenz von Kultur und Erziehung gesehen wie in diesen ersten Tagen. Die Solidarität einer deutschen Kollegin half: Sie gewährte Asyl, gab wertvolle Tipps, um Distanz aufzubauen und einen eigenen Privatbereich so schnell wie möglich herbeizuzaubern. Und so war die Suche nach einem Haus die erste Aufgabe, die zu bewältigen war.

Wohnungssuche

Unsere Analyse der Stadt Alexandria hatte ergeben, dass diese völlig degradiert war. Das soziale Elend war unübersehbar, der Lärm und der unvorstellbare Dreck ließen an den bevorstehenden Ausbruch einer mittelalterlichen Pest denken; unsere Schlussfolgerung war dementsprechend: Wir wollten eine Unterkunft, die weit ab von all diesen Problemen lag, dennoch inmitten der üblichen Behausungen der muslimischen Bevölkerung; und eine Unterkunft, die – falls eine wie auch immer geartete soziale Bewegung ausbräche – nicht in einem Knotenpunkt von christlichen Ausländern lag, denn wir rechneten mit Übergriffen auf Christen. Diese Entscheidung hat sich später als goldrichtig erwiesen.

Unser Haus war ursprünglich der Besitz des im Jahre 1992 von Moslem Brothers ermordeten Journalisten Foda gewesen (vgl. Spiegel u.a.). Wir nahmen dies als Zeichen. Es schützte uns mit einer großen, aus Büschen und Blumen, seit fünfzig Jahren gewachsenen Mauer vor der Außenwelt, - und es wurde unser elaboriertes Gefängnis für einige Monate. Ich liebte dieses Haus, denn ich hatte das Gefühl, es litt genauso wie wir. Wir setzten es instand und hegten insgeheim die Hoffnung, dass wir hier zumindest unsere innere Ruhe aufrechterhalten könnten. Denn die uns umgebende akustische Kulisse war mehr als belastend. Fünf Mal am Tag riefen die vier Muezzine lautstark und lang anhaltend von den umliegenden Minaretten zum Gebet. Sogar durch die Ohrstöpsel drang der Lärm morgens um halb vier durch.

Der Schlaf war unterbrochen. Tagsüber war kein Gespräch mehr möglich, kein Telefonat, die Musik oder der Fernseher konnten getrost ausgeschaltet werden. Die Muezzine hätten ihre Lautsprecher in andere Richtungen stellen oder den Ton leiser machen können. Wie oft wir zu ihnen gegangen sind und um Gnade baten, erinnere ich nicht. Es war sinnlos. In dieser Situation habe ich verstanden, was Gehirnwäsche bedeutet. Den Schlaf der Menschen stören – ist das nicht ein Foltermittel? Selbstverständlich waren nicht nur wir im Visier der Muezzine, sondern eigentlich das ganze Land, vor allem koptische Distrikte. Koptische Mitbürger wiesen vor der Revolte darauf hin, dass diese Lärmbelästigung durch die Mubarak Regierung verboten sei. Aber die Einhaltung von Gesetzen ist in diesem Land ohnehin etwas Seltsames. Man hört von ihrer Existenz, aber keiner hält sich daran. Letztlich entscheidet das Kräfteverhältnis in einem Distrikt.

Am Freitag Mittag, der Stunde der größten Lärmbelästigung, trafen wir uns manchmal mit koptischen Freunden im Haus und drehten europäische Musik voll auf: Pavarotti, die Callas, sie hat ja so eine wunderbar durchdringende Stimme, die Beatles, - auch sehr geeignet, - ja sogar Khaled mit seiner „Aicha“, dem wunderbaren Liebeslied. Bei den arabisch gesungenen Liedteilen hörten wir die Bawab, die mausearmen Türwächter draußen auf dem Weg mitsingen. Die Bawab, ich vermute, viele von ihnen kamen direkt aus der Wüste, hatten mit den hysterischen Muezzinen nichts oder wenig zu tun. Ihr Problem war eher satt zu werden und die Familie, die Kinder zu ernähren.

Wir hatten das Haus zuvor bei unserem Einzug zwei Tage lang säubern müssen. Die zum täglichen Leben notwendigen Haushaltsgeräte mussten wir gänzlich neu anschaffen, da diese entweder nicht vorhanden oder funktionsunfähig waren. Das bedeutete: Großeinkauf. Der Container mit unserem Hab und Gut traf Anfang Oktober ein, nachdem wir dieses nur durch Zahlung hoher Geldsummen (einem saftigen Bakschisch) an das korrupte Hafenpersonal vor dem Untergang oder Diebstahl hatten retten können. Jedwede Form von eigentlich selbstverständlicher behördlicher Dienstleistung lässt sich in Alexandria nur durch Bestechung erzielen.

Die Schule

Ich hatte mir vorgenommen, meinen Ersteindruck noch einmal beiseitezuschieben und so tun, als sei alles in Ordnung. Den ersten optischen Eindruck, unangenehme Klassenräume mit wackligen Kindergartentischen und –stühlen auf Steinfußboden, versuchte ich zu verdrängen und als neue interkulturelle Erfahrung abzubuchen. Im Laufe der folgenden Wochen erschienen die Lehrerinnen, mit denen ich zusammenarbeiten sollte. Zwei Europäerinnen, und eine langjährige Mitarbeiterin, die aus Saudi Arabien zurückkam. Als die ägyptische Kollegin aus der zweiten Schule unseres Departments von dieser unerwarteten Rückkehr hörte, brach sie in Tränen aus. Es waren keine Freudentränen. Als ich die besagte saudische Dame das erste Mal sah, hatte auch ich Lust, mein Taschentuch zu zücken. Zur Erklärung unserer kollektiven Verzweiflung: Sie kam nicht nur aus Saudi Arabien, sondern sie vertrat es. Sie trug einen schwarzen Niqab und einen Gesichtsausdruck, der aus der mittelalterlichen Inquisitionsära oder aus den Trainingslagern der Brigaden der saudiarabischen Sittenpolizei hätte stammen können. Meiner ägyptischen Kollegin gab sie den Judaskuss, mich begrüßte sie mit den Worten: „Sie sind also die Neue ...Ihren Vorgänger haben wir nach einem Jahr nach Hause geschickt!“ Immerhin offene Worte. Die Kampfansage war deutlich.

Deutsch als Fremdkörper

Die Stammschule (denn zu meinem Aufgabenfeld gehörten plötzlich weitere private Schulen, alle unter der Verwaltung desselben Managers stehend) und der Deutschunterricht lässt sich so beschreiben: Das Deutschdepartment ist ein Fremdkörper innerhalb der Privatschule, die auf dem nationalen Erziehungswesen basiert. Ziel dieses Etablissements ist das ägyptische Abitur. Die Eltern schicken ihre Kinder wegen des Deutschunterrichts an diese Schule, aber eigentlich spielt das Department sonst gar keine Rolle. Wann immer es um Außenwirkung ging, wurde das Department unter den Teppich gekehrt. Es fungiert eher als Akquisitionsmittel. Wäre es nicht mehr da, könnten die Eltern ihre Kinder auch getrost an eine andere der zahlreichen Privatschulen schicken. Vielleicht an die „School for Prince charming and Princess“? Oder an die „Elite School“? Oder an die „The best for your child and my pocket money school“?

Selten sah ich eine Stadt, in der Privatschulen wie Pilze aus dem Boden schießen. Und die Namen, die sie tragen, verursachen bei den denkenden Ägyptern eher einen Lachanfall und können nicht ernst genommen werden. Dass diese schlechten Privatschulen trotzdem ständig neue Schüler bekommen, liegt an der Misere im staatlichen Sektor. Achtzig Kinder in einem Klassenraum ohne ausreichende Tische und Stühle: Wer soll da lernen? Wer soll da unterrichten? Der Lehrer, mit 500 EP pro Monat völlig unterbezahlt, schreitet also des Morgens in die Klasse und sein vornehmliches Ziel ist es, möglichst viele Privatstunden zu Hause zu einem teuren Preis zu verkaufen. Unterricht im eigentlichen Sinne gibt es nicht. So erklärt sich die hohe Quote von Analphabeten (80 % Frauen, 60 % der Männer, aber die Zahlen schwanken und das ist nicht erstaunlich, denn wie kann überhaupt gezählt werden in diesem Land?).

„Meine“ Schule kostet 1500 EP pro Semester im Schnitt (ein „normaler, armer“ Ägypter hat ca. 15 EP pro Tag). Viele Familien haben drei- vier Kinder, die alle auf diese Schule gehen. In diesem Fall gibt es einen Rabatt. Dazu kommen noch die Kosten für die Schuluniform und die Schuhe und Strümpfe. Inwiefern der Chefmanager auch hier sein verdienendes Händchen im Spiel hat, konnte ich nicht herausfinden. In Paris war das der Fall. Das Geld floss pro Uniform in die Privatkasse des „Schulleiters“. Die Lehrerinnenkinder sind auch auf der Schule. In diesem Fall gibt es einen Deal zwischen Herabsetzung des Lehrergehalts (ist ohnehin sehr gering) und den Schulkosten. Die unterrichtende Mutter ist in der Falle. Kritik kann sie nicht äußern. Das ginge auch ohnehin nicht, denn es gibt keinerlei vorgesehene Struktur oder Instanz, in der sie ihre Kritik vortragen könnte. Vorschläge und Bitten wurden dem Chefmanager in unterwürfiger Haltung vorsichtig oder kokett (Frauenstrategie) vorgetragen, wenn Zeugen vorher hinter der vorgehaltenen Hand bestätigt hatten, dass er „guter Laune“ sei. Da das selten der Fall war, kann man sich vorstellen, wie oft die Untergebenen es wagten, persönliche Anliegen vorzubringen.

Appell morgens um 7.30 Uhr bis 7.50 Uhr mit ca. 800 Schülern. Gymnastik, Koran Lesung in quäkender Stimme, manchmal Vorträge aus der laufenden Unterrichtsarbeit, die keiner akustisch verstand, dann Nationalhymnen Gesang und Fahnenappell in militärischer Attitude. Der Hass der (älteren) Schüler auf das Schulsystem bezog sich vor allem auf diese Zeremonie. Nach dem Aufstand verweigerten sich mehr und mehr Schüler bei der Nationalhymne und flüsterten, warum sie noch „bladi – bladi“ (my motherland) singen sollten, da das Land nichts für die Jugend tue und dem Untergang geweiht sei. Nebenbei sei erwähnt, dass die Schule mehrheitlich Muslime, aber auch Kopten als Schüler hat. Letztere hatten ein kleines Zimmer, in dem sie sich hin und wieder zum Religionsunterricht trafen. Das ist doch ein Zeichen wahrer Toleranz, oder?

Unterrichtsarbeit

Dann der Unterricht für 600 Schüler, die zu unserem Department der Stammschule gehören. In den unteren Klassen mussten bis zu 35 schreiende Kinder inmitten tosender Geräuschkulissen aus den anderen Klassenräumen bedient werden. Frontalunterricht mit ständig schreiender Stimme in hohen Tönen war die Lösung vieler Lehrender. Der Geräuschpegel entschied über das Urteil, ob ein Lehrer gut oder schlecht war. Zu hoher Geräuschpegel: Alles zog die Stirn kraus.

In diese Atmosphäre Projektarbeit und die Idee selbstständigen Arbeitens einzubringen, ist Knochenarbeit. Den älteren Schülern war der Deutschunterricht verleidet, weil die Eltern die Kinder in diesen Unterricht gedrängt hatten, weil Jahre lang frontal unterrichtet worden war, weil jede Stunde eine neue Seite im Lehrbuch erarbeitet wurde, weil nichts Kreatives im Unterricht geschah oder gefordert wurde. Und wenn der Unterricht Themen aufgriff, die sich mit den Problemen Pubertierender auseinandersetzte, war in der Regel ein Gespräch mit dem Chefmanager angesagt. Irgendjemand hatte sich wieder bei ihm beschwert. Mal eine Mutter, mal ein Schüler oder unsere aufmerksame Kollegin aus Saudi Arabien, die meinte, dem Chefmanager besondere Informationsdienste leisten zu müssen. Eine junge Kollegin hatte eine Karikatur eines nackten Babys (ohne Geschlechtsmerkmale) zum Training der Lexik in den Unterricht eingebracht und wurde sofort von – vermutlich salafistischen - Eltern gemaßregelt. Die Zeichnung sei obszön und im Islam sei es verboten, Babys nackt zu zeigen.

Jeden Monat mussten „exams“ (bei uns würde man von einem Test sprechen) geschrieben werden, deren Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung unendlich viel Zeit kosteten und wenig Nutzen bringen. Statt endlich pädagogische Konferenzen zu initiieren, eine gemeinsame Planung durchzusetzen, Klassenkonferenzen zu organisieren, schwierigen Kindern psychologisch zu helfen, wurde der größte Teil der Arbeitszeit mit wirkungslosen Ritualen vertrödelt. Allerdings haben diese Rituale einen Sinn: Sie befriedigen die zahlenden Eltern, die die Noten ihrer Sprösslinge anschauen können und glauben, alles Mögliche getan zu haben.

Im ersten Halbjahr verloren wir Unterrichtszeit, weil die Regierung befürchtete, es werde eine Epidemie ausbrechen und die Kinder zu Hause blieben. Als wir dann wieder unterrichteten, war es sehr kalt und feucht, und es wurden, um die „schlechte“ Luft zu vertreiben, alle Fenster gleichzeitig geöffnet, sodass viele nun wirklich erkrankten.

Gestutztes Wir-Gefühl

Kurz nach Unterrichtsbeginn wurden alle Neulinge der ZfA zu einem zweiwöchigen Seminar nach Budapest eingeladen. „Wir“, das waren die Fachberater und die Fachschaftsberater. Das Wir-Gefühl wurde dank der Einteilung in zwei Klassen sehr schnell beseitigt. Die Fachberater stellen die Elite dar, das wusste ich bislang gar nicht, letztere die Menschen zweiter Garnitur, das war mir auch neu. Im Übrigen erfuhr ich, dass die Gründung „meiner“ Schule als potenzielle DSD Schule Resultat eines politischen Deals vor dem Hintergrund der aufstrebenden Islamisten in Alexandria gewesen war und der Chefmanager einen denkbar dubiosen Ruf genoss.

Das erklärte einiges, machte es aber nicht erträglicher. Man ließ mich unvorbereitet ins offene Messer laufen. Ich bekam lediglich gute Wünsche von kompetenter Stelle mit auf den Weg: „Halten Sie durch, seien Sie stark, Sie werden es brauchen.“ Ich fühlte mich in einer Falle, aus der heraus zu kommen zu spät war. Das Gefühl, alleine einer erdrückenden Situation ausgeliefert zu sein, stellte sich ein; ich begriff, dass ich keinerlei Rechte und keinen Schutz haben würde, den Intrigen einer islamistischen „Kollegin“ und anderer ausgeliefert sein würde, gleichwohl unter dem Druck stehen würde, pädagogisch-didaktisch-fachlich effizient arbeiten zu müssen.

Polizeiverhöre

Bei meiner Rückkehr fand ich meinen Mann, der auch nicht verschont geblieben war, in einer pessimistischen Stimmung wieder. Er hatte fünf Verhöre über mehrere Stunden der ortsansässigen Geheimpolizei über sich ergehen lassen müssen, weil er einen Telefon- und somit auch Internetanschluss einrichten lassen wollte. Der Chefmanager der Schule hatte sich speziell für diesen Kontakt und Weg eingesetzt und ihn vorbereitet. Der verhörende Offizier zählte zu seinen guten Freunden. Die Verhöre fanden übrigens in dem Gebäude statt, das in der Nacht vom 28. Januar 2011 von den wütenden Aufständischen völlig zerstört wurde. Unten, so hörten wir später von Einheimischen, waren die Folterkeller gewesen.

Der Chefmanager zeigte im Laufe der Wochen in aller Deutlichkeit seinen Führungsstil: Hinter einem riesigen, völlig chaotischen Schreibtisch thronend – mehrere Koran Exemplare dekorierten dieses Durcheinander - ließ er geladene oder nicht geladene Angestellte stundenlang warten, bekam Wutanfälle, die durch das ganze Haus zu hören waren, putzte Mitarbeiter vor allen anderen herunter. Termine wurden in den meisten Fällen gar nicht wahrgenommen, - ohne Entschuldigung, versteht sich. Oder umgekehrt: Das Mobil Phone summte und die Mitarbeiter hatten unverzüglich zu springen. Seltsam: 30 Jahre Diktatur zeigten auch hier ihr Gesicht. Und die Menschen, die darunter leiden, tun es gerne, denn der Pharao ist ja derjenige, der Arbeit und (trockenes) Brot gibt ... Wann immer ich etwas Empathie gegenüber Opfern dieses Führungsstils zeigte, stieß ich auf eine Wand. Er wurde relativiert und gerechtfertigt. Nur die jungen Kolleginnen machten da eine Ausnahme, besonders in den Zeiten des Aufstands.

Gesellschaftliches Unwetter

Im zweiten Jahr, also ab dem Oktober 2010, bahnten sich erste Zeichen eines gesellschaftlichen Unwetters an. War es vorher absolut gefährlich gewesen, Mubarak zu kritisieren, so sagten jetzt plötzlich alle möglichen Leute: „We need a change“. Welche Art Wechsel, wie der aussehen sollte, mit welchen Zielen, - das war egal. Hauptsache „change“. Der Unmut wuchs, als Mubarak seinen Sohn als Nachfolger für sein Amt bestimmt hatte. Hätte er das nicht getan, ich bin nicht sicher, ob es trotzdem einen Aufstand gegeben hätte. In dieser Zeit begann ich, Artikel für die Repubblica zu schreiben. Natürlich unter einem Pseudonym, denn dank der kostspieligen Software einer deutschen Firma (Website in London), rechtzeitig gekauft, war es der Mubarak Regierung möglich, die Handys der Bürger abzuhören und deren Mails auszuspionieren.

Dieses Schreiben erwies sich als sehr gute Überlebensstrategie, denn ich hatte zunehmend das Gefühl, von dieser übermächtigen Lawine eines radikalen, fundamentalistischen Islams erdrückt zu werden. Mein Mann verfolgte die gleiche Strategie, seinen Freiraum zu suchen: Er betrieb Küstenarchäologie und entdeckte jede Woche etwas Neues, ohne Ausgrabungen, sondern durch Theorie, Analyse, Beobachtung und Mut. Letzteres brauchte er besonders, weil seine Exkursionen zunehmend gefährlicher wurden (Beduinen, Soldaten, Baltagi).

Im Dezember 2010 gab es ein gewaltiges Unwetter mit Sturm und Regen, über den sich Heinrich Mann vor dem gesellschaftlichen Hintergrund des Landes gefreut hätte. Er zerstörte viele Gebäude und Einrichtungen, unser Garten wurde ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Es war das Unwetter vor dem Aufstand. Am 25. Januar waren wir in Alexandria zu Besuch bei einer Ballettschule, die eine Prüfung organisiert hatte. Ich schoss Fotos meiner Schülerin, plauderte mit den Müttern und Lehrern, als unser Fahrer plötzlich hereinstürzte und zum Aufbruch drängte. Es war kurz nach zwei Uhr mittags. Schon auf der Corniche kam uns ein langer Demonstrationstrupp entgegen. Ein alter Mann kam zu uns gestürzt und gab uns hektisch den Rat sofort zu verschwinden, weil wir Ausländer seien. Es könne gefährlich werden. Unser Fahrer Mohamed bugsierte uns nach einigen Stunden auf Schleichwegen zurück nach Hause.

Was dann passierte, will ich nur in Stichworten beschreiben: Am 28. Januar in der Nacht wurden öffentliche Gebäude zerstört, es wurde geschossen, viele Menschen wurden getötet, viele bestialisch abgeschlachtet (im Hafen), das Licht, der Strom, das Telefon und das Internet funktionierten nicht mehr. Es war wie im Krieg, für mich der erste, denn ich gehöre zu der Friedensgeneration in Deutschland. Wir saßen im Dunklen, hörten die Kriegsgeräusche von Maschinengewehren und Schreien und wir erstarrten zur Salzsäule.

Die besten Momente des Aufstands

Die deutsche Botschaft rief drei Wochen später aus Berlin an, um zu fragen, ob wir noch lebten. Die ZfA hatte sich gar keine Gedanken um uns gemacht, da, wie ich später erfuhr, das Gerücht kursierte, wir seien in Deutschland. Eins ist deutlich geworden: In Kriegs- und Krisenzeiten ist jeder auf sich gestellt und muss selber sehen, wie er sich beschützt. Glücklicherweise hatten wir immerhin das französische Konsulat im Hintergrund und wussten, dass der Sicherheitsbeauftragte uns jederzeit aus der schlimmsten Not befreien würde. Als die 8000 Kriminellen im Februar aus den Gefängnissen befreit worden waren, um der Zivilbevölkerung Angst und Schrecken einzujagen, erlebten wir den „besten“ Moment des Aufstandes.

Die ganze Bevölkerung unseres Distriktes hatte Barrikaden gebaut und jeder, der hinein wollte, musste eine Kontrolle durch die mit Stöcken und Messern bewaffneten jungen Leute ergehen lassen. Auch vor unserer Tür war zu unserem Schutz eine Gruppe von Bawabs besonders nachts stationiert, denen wir im Gegenzug als Zeichen unseres Dankes Geld, Holz und warmes Essen hinausreichten. Aber die Angst blieb. Und so ist es heute amüsant, dass meine satirische Mail vom 5. Februar an meinen Vorgesetzten nicht als Satire verstanden wurde, sondern als eine willkommene Befreiung von der lästigen Aufgabe der Fürsorge während des unverhofften Glücks einer Rückkehr in den deutschen weißen Winter.

Bis zum 20. März waren die Schulen geschlossen. Besonders die Europäer hatten den Rat bekommen, sich möglichst nicht auf den Straßen sehen zu lassen. Am 10. Februar haben wir es gewagt, doch einmal mit unserem Fahrer in die Stadt zu fahren, um Fotos zu machen und zu sehen, was passiert war. Auf dem Rückweg trafen wir, dieses Mal in einem gelben Taxi, auf eine Demonstration in El Max. Ich konnte Fotos machen, und ahnte nicht, dass die Demonstranten die sein würden, die einige Monate später – im Dezember - 200 Kopten abschlachten bzw. schwer verletzen würden.

Demokratischer Umbruch

Im März forderte der Chefmanager alle seine Bediensteten auf, über Demokratie nachzudenken. Er hatte irgendwo einen Korb aufgestellt und um anonyme (?!) Vorschläge zur Demokratisierung gebeten. Es wurde eine denkwürdige Sitzung. 600 Menschen starrten nach vorne auf diesen rauchenden, sich souverän gebenden, gut genährten Menschen, der ununterbrochen redete. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und fischte Papierchen aus dem Nichts, die er dann genüsslich vorlas. Jemand hatte ein Projekt vorgeschlagen: das Malen der Nationalflagge. Er lachte amüsiert. Viele lachten pflichtschuldigst mit. Jemand bat um mehr Gehalt. Hier lachte er nicht mehr, sondern runzelte die Stirn und versprach, darüber nachzudenken.

Später wurde mir erzählt, dass er die Stunde genutzt hatte, um (auf Arabisch) ein Gerücht über meine finanziellen Quellen zurechtzurücken; er hob hervor, dass ich meinen Fahrer aus eigenen Mitteln zahlte und auch mein Gehalt aus Deutschland komme. Offenbar war dieses Thema für alle zentral gewesen. Und das Problem der Gehaltserhöhung war erst einmal vom Tisch. Ein anderer Zettel wurde verlesen: Der Schreiber schlug vor, den Chefmanager zum Teufel zu jagen und die Schule in die eigene Hand zu nehmen. Ich lachte, jeder hörte es. Dann kamen endlos langweilige Erörterungen, die sich über weitere drei Stunden hinzogen. Von den 600 Kollegen hatte bislang immer noch keiner ein Wort gesprochen.

Nachdem ich meine aufsteigende Wut bis dahin gebändigt hatte, indem ich mich ganz auf die Vögel auf der Fensterbank konzentrierte, hielt ich nicht länger diese Situation aus und bat um Rederecht. Nach dem dritten Anlauf gewährte mir der Chefmanager 5 Minuten. Diese Rede auf die Demokratie führte zu einer Mail, die ich – CC - pünktlich zu meinem Geburtstag (einem runden) erhielt: Mein ägyptischer Vorgesetzter tat der ZfA kund, dass er keine Verlängerung des Vertrages über die 3 Jahre hinaus wünsche und vielmehr von jemandem träume, der eine Vision habe. Aus vorgesetzter Stelle kam folgende Reaktion auf die Mail: „Schlafen Sie gut!“

Visionen

Dabei hatte ich eine Vision gehabt: Abschaffung der Subventionen der Schule aus deutschen Steuermitteln. Und: Auf keinen Fall wollte ich länger als drei Jahre an diesem Etablissement arbeiten. Der Familienrat, an meinem „Freudentag“ zusammengetroffen, war zu diesem Ergebnis gekommen und ich hatte mich dieser Meinung sofort angeschlossen. Und nun wurde ich nicht einmal gefragt, ob ich den Vertrag verlängert hätte. Ärgerlich. Meine preußische Sturheit ließ mich allerdings den Vertrag bis zum letzten Schultag im Mai 2012 durchführen.

Und so warf ich mich konzentrierter denn je auf die Arbeit: Stoffverteilungspläne en détail für jede Stufe, die Entwicklung von 15 Projekten incl. Materialien und Planung, Konferenzen, Workshops für unsere DSD I Kandidaten standen auf meinem Arbeitsplan. Ich arbeitete viel und gerne für die jungen Leute, die ich wirklich schätzte und gerne mochte. Und meine Strategie, den Chefmanager völlig zu ignorieren, war ebenfalls sehr positiv. Wir sahen uns nur noch selten, - warum auch? Fachlich konnte ich nie etwas mit ihm diskutieren und den Ablauf der Schule mit den ganzen Seltsamkeiten hatte ich inzwischen verstanden.
Das kostenträchtige Überwachungssystem, das der Manager nach der Revolte installieren ließ, ähnlich wie das des Gouverneurssitzes in Alexandria, das in der Nacht des 28. Januar dem Erdboden gleichgemacht worden war, beeindruckte mich zu Beginn; später konnte ich dank eines Diebstahls feststellen, dass man gar nichts auf den Kameras sehen konnte und die Menschen nur schemenhaft zu sehen waren. Es war wieder ein billiger Bluff zur Einschüchterung Aller. Wie alles.

Der Winter 2011-2012 war die härteste Zeit, die wir erlebten. Durch den Bürgerkrieg in Libyen schwemmten zahllose Beduinen in unseren Wohndistrikt und sorgten für eine neue, unangenehme Atmosphäre. Es war schlimmer denn je. 30 jaulende und kläffende Dingos vor unserer Haustür, nächtelang, herumhängende alkoholisierte Menschen, vier Muezzine mit ihren durchdringenden Stimmen fünf Mal am Tag, hinzu kamen ein neuer Nachbar mit einem wochenlang weinenden Hundebaby, sintflutartiger Regen, Kälte, Stromausfälle – vor allem morgens vor der Arbeit, eisige Kälte und Feuchtigkeit im Haus, Krankheiten und Überfälle auf den Highways: Schlimmer konnte es nicht kommen.

Es gab Tage, an denen mein Fahrer mich morgens anrief und abriet, nach Alexandria zu fahren, weil er von Überfällen gehört hatte oder er wieder krank im Bett lag. Die Gewaltakte waren mit Pistolenschüssen und häufig auch Toten verbunden. Meine Kolleginnen reagierten nicht mehr auf Einladungen in unser Haus, da sie den Weg als viel zu gefährlich einschätzten. Außerdem herrschte immer noch Ausgangssperre ab 18 Uhr. Die Stadt Alexandria verkam in diesen sechs Monaten in einer Geschwindigkeit, die entsetzlich war. Häuser, ohnehin nie gepflegt, stürzten wegen der Wasserfluten ein, die Unfälle auf den unpassierbaren Straßen gewannen an Normalität, auch die Toten.

Wir begannen, die Tage bis zu unserer Abfahrt zu zählen
Mein letzter Akt: die Prüfung unserer DSD-Kandidaten. Die jungen Leute waren gut vorbereitet, trotzdem sehr aufgeregt. Von den 34 Kandidaten „haben {10} B1 erreicht / 24 A2 (meist mit Punktwerten, die bei einer Wiederholung das Erreichen von B1 erwarten lassen - v. a. bei HV/LV)“; dieses Ergebnis erfuhr ich per Mail aus dem Büro des Fachberaters, als ich wieder in Europa war. Bei allem, was ich erlebt habe, hat mich der respektlose Umgang seitens des Fachberaters mit meiner Person erschreckt und mich fragen lassen, ob dieses Verhalten nicht auch innerhalb der Institution ZfA System haben könnte.

Die besten meiner Schüler, die das DSDI-Zertifikat absolviert haben, träumen davon, so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Es wäre wünschenswert, dass ihnen dieser Traum erfüllt wird. Vielleicht sehen wir uns wieder in einem Land ohne Niqabs und Salafisten, ohne hysterische Islamisten, ohne islamistische Resozialisierungsprogramme aus der Ecke der moslemischen Bruderschaften mit Unterstützung des neuen Präsidenten, ohne eigennützige, ignorante Karrieristen, denen das Wohl der Jugend völlig gleichgültig ist, wieder. Vielleicht in einem Land, in dem die Gedanken der Aufklärung lebendig sind, in dem man Kritik üben kann und diese dann auch ernst genommen wird und nicht in der üblichen Scheinheiligkeit versinkt.

 

Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Beitrag enthält nach eigenem Bekunden der Autorin deren höchstpersönliche Ansicht, die sie allerdings auch bereits auf dem Dienstweg zum Ausdruck brachte – wie sie sagt, ohne jede Resonanz. Sie ist gerne bereit, ihre Darlegungen mit allen Interessierten bzw. Betroffenen zu erörtern.