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Genderpolitik und Digitalisierung

„Digitalisierung ist kein Damoklesschwert“

Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Dennoch sind Frauen bei der Nutzung und der Gestaltung der Technik weniger involviert als Männer. E&W sprach mit Maren Heltsche, Sonderbeauftragte für Digitalisierung beim Deutschen Frauenrat, darüber.

Maren Heltsche (42) ist Programmiererin bei der Klimaschutzstiftung myclimate in Berlin und Mitgründerin von speakerinnen.org, einer Plattform für Expertinnen aller Art. (Foto: Rieka Anscheit)
  • E&W: Frau Heltsche, Beschäftigte beklagen, dass sie aufgrund der Digitalisierung der Arbeitswelt mehr Aufgaben erfüllen als noch vor einigen Jahren; viele fürchten gar, den Job zu verlieren. Was kommt da auf uns zu?

Maren Heltsche: Digitalisierung ist keine Option, die wir annehmen oder ablehnen können. Wir befinden uns bereits mitten in der digitalen Transformation, sie betrifft alle Bereiche.

  • E&W: Das klingt bedrohlich.

Heltsche: Das muss es aber nicht, Digitalisierung ist kein Damoklesschwert, das über uns hängt. Wir können sie nämlich gestalten – und das müssen wir auch. Selbst wenn die Digitalisierung von einigen als zusätzliche Belastung empfunden wird.

  • E&W: Es heißt, Frauen seien öfter und stärker als Männer von den Folgen der Digitalisierung betroffen.

Heltsche: Das ist richtig. Wenn heute über Digitalisierung nachgedacht wird, fehlt in der Regel der geschlechterspezifische Aspekt.

  • E&W: Was heißt das?

Heltsche: Meist wird über die Auswirkung der Digitalisierung auf Jobs, in denen vor allem Männer arbeiten, gesprochen, beispielsweise in der Industrie oder in der Produktion. Frauen müssen aber im digitalen Transformationsprozess eine zentrale Rolle spielen.

  • E&W: Wie sieht das konkret aus?

Heltsche: Nehmen wir eine öffentliche Behörde, in der viele Frauen arbeiten. Die Behörde sollte schon längst darüber nachdenken, wie sie Mitarbeiterinnen im selben Haus an anderer Stelle, also mit anderen Aufgaben, einsetzen kann. Wenn beispielsweise die Anmeldung, die bislang persönlich verlief, wegfällt, weil das ausschließlich online geschieht, braucht es aber sicher Menschen, die anderen im direkten Kontakt helfen. Oder mehr technisch ausgebildetes Personal, das die IT-Systeme programmiert und wartet. Hier braucht es schon jetzt Fortbildungen, um Mitarbeiterinnen zu befähigen, das in naher Zukunft tun zu können.

  • E&W: Was ist mit Berufen, die direkt mit Menschen zu tun haben und die häufig von Frauen ausgeübt werden, darunter Lehrkräfte, Erzieherinnen, Krankenhaus- und Pflegepersonal?

Heltsche: Solche Jobs werden nicht wegrationalisiert. Es wird – trotz der Pflegeroboter – immer Menschen in der Pflege geben. Ebenso wird es immer pädagogisches Personal in der Kita und Lehrkräfte in der Schule geben. Menschliche Zuwendung kann keine Maschine übernehmen.

  • E&W: Es heißt auch, bei der Digitalisierung seien Frauen benachteiligt, weil sie sich nicht so stark für digitale Prozesse und Technik interessieren.

Heltsche: Das stimmt. Sowohl bei der Nutzung digitaler Technologien als auch in die aktive Gestaltung technischer Prozesse sind sie weniger involviert als Männer. In vielen technischen Berufen ist der Frauenanteil nach wie vor geringer als der der Männer.

  • E&W: Wie passt das zusammen mit dem Bild von jungen Frauen, die viel in den sozialen Netzwerken unterwegs sind?

Heltsche: Eine junge Frau ohne Internet ist heute nicht mehr vorstellbar. Frauen nutzen die sozialen Netzwerke und digitalen Geräte, sie konsumieren die Inhalte, aber dies alles tendenziell weniger als Männer. Und wenn es darum geht, wer diese Anwendungen programmiert und gestaltet, finden sich nur wenige Frauen.

  • E&W: Warum ist das immer noch so?

Heltsche: Hier wirken Geschlechterstereotype, die Kindern von klein auf eingeimpft werden, deutlich nach. Darunter Rollenvorgaben, was ein „typisches Mädchen“ und was ein „typischer Junge“ sei. Die Ausdifferenzierung zwischen den Geschlechtern wird derzeit leider nicht reduziert, sondern sogar noch verstärkt. Dementsprechend wählen junge Frauen heute nach wie vor eher einen vermeintlichen Frauenberuf.

  • E&W: Das heißt, all die Kampagnen für mehr Frauen in MINT-Fächern – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – und der Girls‘ Day für mehr Frauen in technischen Berufen wirken nicht?

Heltsche: Sie wirken schon, heute entscheiden sich mehr junge Frauen für technische Berufe als noch vor einigen Jahren. Der Frauenanteil unter Informatik-Studierenden liegt mittlerweile bei etwa 21 Prozent. Das ist mehr als früher, aber immer noch nicht genug.

  • E&W: Wie sollen sich Mädchen und Frauen auch stärker für Digitalisierung interessieren, wenn große digitale Player wie Google und Facebook männerdominiert sind?

Heltsche: Das ist in der Tat schwierig, weil Mädchen und Frauen in technischen Berufen kaum weibliche Identifikationsfiguren finden. Wenn sie in dem Arbeitsumfeld keinem Menschen begegnen, dem sie ähneln, fühlen sie diesen Job tendenziell nicht passend für sich und erwägen also auch nicht, dort zu arbeiten. Dabei ist gerade das Programmieren ein spannendes Arbeitsfeld für Frauen. Hier kann man sehr viel gestalten und bewegen. Die Vorstellung, dass Programmierer mit Kapuzenpulli zwischen Stapeln von leeren Pizzaschachteln im Keller sitzen, hat mit der Realität nicht viel gemein. Natürlich gibt es diese Spezies, aber Programmieren hat viel mehr mit Kommunikation und Kreativität zu tun, als bekannt ist.

  • E&W: Und dann werden die Algorithmen, in denen sich Frauen kaum wiederfinden, meist auch noch von Männern geschrieben.

Heltsche: Ja, viele Algorithmen benachteiligen Frauen systematisch. Die Gründe dafür liegen oft in den unausgewogenen Daten, auf deren Basis die Algorithmen trainiert werden sowie in wenig diversen Teams, die solche Anwendungen programmieren und testen. Hier brauchen wir dringend mehr Transparenz und diversere Perspektiven im Entwicklungsprozess!

  • E&W: Die Soziologin Christiane Funken sieht in der Digitalisierung einen positiven Effekt für Frauen: Sie könnten sich dadurch viel besser präsentieren als früher. Wie sehen Sie das?

Heltsche: Durchaus. Über Social-Media-Kommunikation kann man sich Netzwerke aufbauen und Informationen beschaffen. Auch wenn man eventuell in der Hierarchie noch nicht an den Machtpositionen sitzt. Durch das digitale Lernen können Frauen ungemein gewinnen. Sie erhalten beispielsweise über ein Programm wie „Female Future Force“ für eine relativ geringe Summe eine Coaching-Serie. Gewöhnlich bekommen nur Menschen in höheren Positionen Coachings angeboten. Auch digitale Tools bieten Chancen für Frauen.

  • E&W: Können Sie ein Beispiel nennen?

Heltsche: Die Datenbank speakerinnen.org versammelt jede Menge Expertinnen. Ungeachtet dessen bietet die Digitalisierung jede Menge Jobs, die besser bezahlt sind als andere „typische Frauenberufe“.

  • E&W: Die Bloggerin Kira Marrs hat gesagt, dass sogenannte Soft Skills bei der Digitalisierung zu Hard Skills werden.

Heltsche: Die technischen Veränderungen bewirken jede Menge kulturelle Veränderungen und ebenso veränderte Anforderungen an Führungskräfte. Alphamännergehabe, um es mal salopp zu sagen, ist immer weniger akzeptiert und auch immer weniger hilfreich. Vielmehr sind andere Kompetenzen gefragt: Teams partnerschaftlich zu leiten, gut zu kommunizieren, Menschen mit den richtigen Skills zusammenzubringen. Das sind Führungsaufgaben, die in der neuen Kultur immer wichtiger werden. Frauen haben mehr Lust, Führungspositionen zu übernehmen, die nach solchen Kriterien aufgebaut sind.

  • E&W: Wie sieht das Büro der Zukunft aus?

Heltsche: Eine Form der Zusammenarbeit ist das agile Arbeiten: Ein Team aus gleichberechtigten Menschen arbeitet gemeinsam an einem Projekt. Dabei haben alle unterschiedliche Rollen, es gibt festgelegte Rituale und Tools zum Austausch sowie zur Arbeitsorganisation. Die Zusammensetzung der Teams wechselt häufiger, einzelne Personen können die Führung übernehmen, sie aber auch wieder abgeben. Dabei braucht es mehr Kommunikation und recht unterschiedliche Menschen. Die Diversität, die hier gefragt ist, ist ebenfalls eine große Chance für Frauen.