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Lehrkräftemangel

Die Ruhe nach dem Sturm?

In der öffentlichen Diskussion ist es wieder ruhiger geworden um den Lehrkräftemangel. An vielen Schulen hat man sich irgendwie arrangiert. Doch das Problem ist überhaupt nicht gelöst – im Gegenteil.

Nur drei Länder haben in den vergangenen Jahren „bedarfsdeckend“ ausgebildet. (Foto: mauritius images/pa/Caroline Seidel)

Für eine verlässliche Aussage über die bundesweiten Lehrkräfteeinstellungen zum laufenden Schuljahr ist es noch zu früh. Zusammenfassende Statistiken werden erst in einigen Monaten vorliegen. Es ist aber schon abzusehen, dass die Einstellungen deutlich hinter dem zurückbleiben, was geplant war – und erst recht hinter dem, was wünschenswert und notwendig ist.

Dazu muss man wissen, dass in der Statistik Tausende Kolleginnen und Kollegen mitgezählt werden, die als Vertretungslehrkräfte ohne Ausbildung befristet vor die Klassen gestellt werden. Nicht überall liegen dazu valide Zahlen vor. Die GEW Hessen hatte zum Stichtag 1. Januar 2019 exakt 5.761 solcher Fristverträge ermittelt. Bezogen auf Vollzeitstellen entsprach dies einer Befristungsquote von 6,6 Prozent.

Hohe Abbruchquoten

Das Phänomen, dass mit befristet Beschäftigten der Lehrkräftebedarf zumindest statistisch gedeckt wird, ist nicht neu. So gab es 2018 zwar Neueinstellungen in Rekordhöhe: 36.000 Lehrkräfte wurden insgesamt eingestellt, es gab aber bundesweit nur 28.000 Absolventinnen und Absolventen des Zweiten Staatsexamens. In der Lehrerbedarfsprognose der Kultusministerkonferenz (KMK), die im Oktober 2018 veröffentlicht wurde, steht für 2018 jedoch ein Einstellungsbedarf von 41.750 Lehrerinnen und Lehrern. Das sind die Werte, die die Länder im Laufe des Jahres an die KMK gemeldet hatten.

Inzwischen haben viele Bundesländer mit einer Ausweitung der Studienkapazitäten auf den strukturellen Mangel reagiert: Berlin verdoppelt seine Lehramtsstudienplätze bis 2022 auf 2.000, Bayern schafft zeitlich befristet 700 zusätzliche Studienplätze für Grundschullehrkräfte, Nordrhein-Westfalen (NRW) vermeldet 339 und Hessen 315 neue Plätze für Grundschullehrerinnen und -lehrer. Selbst das kleine Bremen erhöht die Studienkapazitäten um ein Drittel auf 600 (alle Lehrämter). Doch wer heute ein Lehramtsstudium aufnimmt, kommt im günstigsten Fall 2025 fertig ausgebildet in einer Schule an.

Etwas schneller würden Maßnahmen wirken, die auf eine Verringerung der hohen Abbruchquoten zielen. Zu diesen hat das Kultusministerium Mecklenburg-Vorpommern kürzlich eine Studie vorgelegt. Demnach spielen Gründe, die in der inhaltlichen und organisatorischen Struktur des Studiums liegen, die größte Rolle, wenn junge Menschen ihr Studium abbrechen. Die Studie empfiehlt daher unter anderem eine bessere Verzahnung von Praxis und Studium und plädiert für einen stärkeren Berufsfeldbezug in der Ausbildung.

Eine deutliche Reduzierung der Abbruchquoten ist jedoch kurzfristig nicht zu erwarten. Deshalb werden in allen Bundesländern derzeit Pensionäre mit attraktiven Konditionen zurück an die Schulen gelockt und rentennahe Jahrgänge zum Bleiben überredet. Nicht besonders erfolgreich sind diverse Versuche, unversorgte Absolventen eines gymnasialen Staatsexamens für den Dienst an anderen Schulformen „umzuschulen“. Schon besser läuft das Angebot in NRW, ohne „Umschulung“ für zwei Jahre an einer Grundschule zu unterrichten, um anschließend an ein Gymnasium zu wechseln. Laut Kultusministerium haben 345 Lehrkräfte der Sekundarstufe II das Angebot angenommen.

Die derzeit wichtigsten Maßnahmen sind die Programme zur berufsbegleitenden Nachqualifizierung von Menschen mit Hochschulstudium, aber ohne Lehramtsabschluss. 2018 erreichte deren Zahl mit 4.786 ein Allzeithoch – davon fast die Hälfte in Sachsen und Berlin. In der Hauptstadt waren zu Beginn des laufenden Schuljahres fast zwei Drittel (1.649) der neu eingestellten Lehrkräfte Seiten- oder Quereinsteiger. Der Einstieg in den Schuldienst läuft selten reibungslos, er ist für Kollegien und Betroffene mit vielen Problemen verbunden. In der Berliner GEW gibt es deshalb eine „AG Quereinstieg“, auch die GEW Sachsen engagiert sich für und mit Seiteneinsteigern. In der GEW Mecklenburg-Vorpommern hat sich Anfang September sogar eine Fachgruppe Seiteneinsteiger*innen gegründet.

Veraltete KMK-Prognosen

Auch die Entscheidung von Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und zuletzt Sachsen, Lehrkräfte künftig erstmals (im Fall von Thüringen: wieder) zu verbeamten, begründeten die Länder mit der Personalnot in den Schulen. Bundesweit gesehen ist das eher ein Ausdruck der Hilflosigkeit, weil es dadurch nicht eine einzige Lehrkraft zusätzlich gibt. Aber im Wettbewerb um die Absolventinnen und Absolventen erhoffen sich diese Ost-Länder dadurch einen Vorteil, zumal neben dem Westen auch Sachsen-Anhalt und Brandenburg verbeamten.

Schon heute sind die vor einem Jahr vorgelegten Prognosen der KMK überholt, weil sie mit veralteten Schülerzahlen arbeiten. Die Studien sind vor allem politisch aufschlussreich, weil sich in ihnen letztlich die Einstellungsplanungen der Bundesländer niederschlagen. Die Aktualisierung der bundesweiten KMK-Prognosen ist ein schwerfälliges, bürokratisches Unterfangen. Nur wenige Bundesländer legen jährlich eigene Lehrerberechnungen vor.

Die KMK ermittelte im Oktober 2018 für den Primarbereich von 2018 bis 2025 einen Einstellungsbedarf inklusive Ersatzeinstellungen von rund 80.000 Lehrkräften. Die Bertelsmann Stiftung, die für die Grundschulen bereits im Januar 2018 eine umfassende Studie vorgelegt hatte, sieht das anders: Von den bis einschließlich 2025 benötigten 105.000 Grundschullehrkräften entfielen etwa 60.000 auf den Ersatz. 26.000 weitere Lehrkräfte müssten wegen der steigenden Schülerzahlen eingestellt werden, außerdem 19.000 Lehrkräfte für den Ausbau von Ganztagsschulen. Dem stünden im gleichen Zeitraum maximal 70.000 regulär ausgebildete Absolventen gegenüber.

Im September 2019 hat sich die Bertelsmann Stiftung vor dem Hintergrund der im Juni 2019 aktualisierten Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes die Grundschul-Prognose der KMK erneut vorgenommen. Allein durch die gestiegene Zahl der Grundschulkinder werde sich der Bedarf an den Grundschulen um knapp 11.000 Menschen (gut 10.000 Stellen) erhöhen, prognostizieren die Autoren Klaus Klemm und Dirk Zorn. Grob gerechnet ist der Einstellungsbedarf also allein wegen der größeren Schülerzahl rund ein Siebtel höher als von der KMK erwartet.

Für die weiterführenden Schulen liegen keine vergleichbaren Zahlen vor; die KMK unterscheidet bei ihren Prognosen nicht zwischen Ersatz- und zusätzlichem Bedarf. Im Oktober 2018 ging die KMK für die allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I und II von einem Einstellungsbedarf von insgesamt 157.000 Lehrkräften für 2018 bis 2025 aus. Unterstellt man, dass die höheren Schülerzahlen auch hier zu einem Mehrbedarf von etwa einem Siebtel führen, ergibt allein das rund 22.500 zusätzlich benötigte Lehrkräfte – auch hier gilt, dass die dringend notwendigen qualitativen Verbesserungen noch nicht mit eingerechnet worden sind.

Höhere Schülerzahlen

Laut KMK fehlen bis 2025 für die Sek-I-Lehrämter 19.000 und bei den sonderpädagogischen Schulen 6.500 Lehrkräfte. Dem stehe, so das Argument der KMK, ein Überschuss von fast 34.000 Absolventinnen und Absolventen des gymnasialen Lehramts gegenüber. Schon rein rechnerisch würden die von der KMK prognostizierten „überzähligen“ Gymnasiallehrerinnen und -lehrer jedoch nicht ausreichen, um die Personallücken an den anderen Schulformen zu schließen, denn der Bedarf an Lehrkräften muss entsprechend der höheren Schülerzahlen nach oben angepasst werden. Die KMK-Rechnung setzt zudem voraus, dass sich die Gymnasiallehrkräfte für den Einsatz an anderen Schulformen gewinnen lassen und entsprechende Weiterbildungsangebote erhalten. Solange aber immer noch nicht alle Bundesländer bereit sind, an allen Schulformen gleichermaßen A13/E13 zu zahlen, dürfte das schwierig werden.