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Didaktikexperte fordert Reform des Politikunterrichts

Der Didaktik-Professor Wolfgang Sander beklagt strukturelle Defizite in der politischen Bildung in der Schule. Das Fach werde in den Bundesländern höchst unterschiedlich behandelt und angeboten, sagt er im „E&W“-Interview.

  • E&W: Die politische Bildung ist – mal wieder – in der Diskussion. Wenn Extremisten in die Parlamente einziehen, heißt es schnell: Die politische Bildung hat versagt. Stimmt die Analyse?

Wolfgang Sander: Dass über politische Bildung diskutiert wird, ist eine gesellschaftliche und pädagogische Notwendigkeit – und sehr zu begrüßen. Wenn ich mir die aktuelle Situation anschaue, dann gibt es da Licht und Schatten. Zu den positiven Aspekten gehört ganz sicher, dass es in der Bundesrepublik gelungen ist, demokratische politische Bildung in den Schulen zu etablieren – das war in Deutschland nicht immer so! Dass wir heute eine professionelle Fachstruktur dafür haben, eine geregelte Ausbildung der Lehrkräfte, dass es die Bundeszentrale für politische Bildung gibt, das ist alles gut.

  • E&W: Was ist denn nicht so gut?

Sander: Zu den Schattenseiten gehören strukturelle Defizite. Etwa, dass das Fach in den Bundesländern höchst unterschiedlich behandelt und angeboten wird – und dann auch noch oft fachfremd unterrichtet. Bundesweit haben wir eine Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen. Mal heißt das Fach Sozialkunde, mal Gemeinschaftskunde, mal Politik und Wirtschaft. Für Außenstehende ist das schwer zu durchschauen. Stellen Sie sich vor, Mathematik würde unter zehn verschiedenen Benennungen angeboten! Zudem ist diese Zersplitterung auch nicht gut für eine weitere Professionalisierung in diesem Feld.

  • E&W: Gibt es denn Bundesländer, die als Vorbild taugen?

Sander: Das kommt auf die Fragestellung an. Wenn wir den Unterricht in der Sekundarstufe I vergleichen, dann hat beispielsweise Hessen mit rund sechs Wochenstunden eine vergleichsweise gute Stundenausstattung. In anderen Bundesländern liegt das manchmal nur bei einer Stunde oder zweien. Aber Hessen hat an anderer Stelle ein Problem: 30 bis 50 Prozent des Unterrichts in politischer Bildung werden hier an den verschiedenen Schulformen fachfremd unterrichtet. Ohne die Kolleginnen und Kollegen angreifen zu wollen: In diesem Ausmaß kann das der Qualität des Unterrichts nicht guttun.

  • E&W: Warum ist das so schlimm?

Sander: Weil man fachlich qualifizierte Lehrkräfte braucht, wenn man Schülerinnen und Schülern Politik- und Demokratieverstehen vermitteln will. Die Gefahr ist groß, dass fachfremde Lehrerinnen und Lehrer dazu neigen, sich auf Faktenwissen zurückzuziehen oder das Fach als bloßen Meinungsaustausch misszuverstehen. Eine andere Gefahr ist, schulische Partizipation schon als politische Bildung zu verstehen, etwa wenn man denkt, ein Klassenrat vermittle schon Demokratieverständnis. Diese Art der Partizipation ist zwar gut für das Schulklima, und sie kann erfolgreich Selbstwirksamkeitserfahrungen vermitteln. Aber der Klassenrat ist eben kein Parlament im Kleinen, er entspricht nicht dem Bundestag oder einem Landtag. Demokratie ist am Ende eine politische Ordnungsform, die anders funktioniert als Partizipation im Schulalltag.

  • E&W: Die Idee der Demokratieerziehung wurde schon von der Bund-Länder-Kommission vorangetrieben. Entsprechende Leitlinien liegen also vor.

Sander: Über vernünftige Demokratieerziehung kann man nicht sinnvoll reden, wenn man sie aus dem Kontext der politischen Bildung herausnimmt. Es hilft auch nur begrenzt, wenn man meint, mit mehr Demokratieerziehung auf aktuelle politische Herausforderungen reagieren zu können. Aus meiner Sicht ist das eine sehr ambivalente Situation: Die politische Bildung bekommt oft dann hohe Aufmerksamkeit, wenn es starke extremistische Bestrebungen in der Gesellschaft gibt. Diese Aufmerksamkeit ist einerseits gut, anderseits muss aber auch klar sein: Politische Bildung kann keine gesellschaftliche Feuerwehr sein, allein schon deshalb, weil sie eher langfristig wirken will. Politische Bildung in der Schule kann und muss zwar Foren bieten, in deren Rahmen aktuelle politische Probleme diskutiert werden. Mit Blick auf politischen Extremismus hat sie aber eher einen präventiven als einen intervenierenden Aspekt.

  • E&W: Wie stark wirkt der sich aus?

Sander: Die Effektivität eines kleinen Unterrichtsfachs auf die politische Kultur kann nicht genau gemessen werden, weil ja ständig auch andere Einflüsse auf das politische Denken von Menschen wirken. Aber es spricht vieles dafür, dass die recht große Stabilität der demokratischen politischen Ordnung in der Bundesrepublik mit vergleichsweise schwach ausgeprägten Extremismen auch auf die politische Bildung in der Schule zurückzuführen ist.

  • E&W: Trotzdem wünschen Sie sich Reformen.

Sander: Natürlich. Die Frage der uneinheitlichen Fachbezeichnung hatten wir ja schon angesprochen. Das Fach sollte überall Politische Bildung heißen. Dafür müsste die Kultusministerkonferenz (KMK) eine entsprechende Rahmenvereinbarung treffen. Aber das ist ein dickes Brett. Seit die KMK 1950 in ihrem ersten Beschluss zur politischen Bildung den Ländern empfahl, ein entsprechendes Fach einzuführen, die Benennung und Ausgestaltung aber freigestellt wurde, haben wir diesen Wildwuchs.

  • E&W: Könnte man sich noch mehr vorstellen, zum Beispiel in Verbindung mit weiteren Fächern?

Sander: In vielen Bundesländern wird mit einer Integration der politischen Bildung mit Geschichte und Geografie zu einem größeren gesellschaftswissenschaftlichen Fach experimentiert. Eine Chance könnte unter anderem darin liegen, ein solches Fach zu einem stundenmäßig gut ausgestatteten Hauptfach zu machen. Aber dafür braucht es ein ausgereiftes Konzept und eine entsprechend abgestimmte Lehrerbildung. Überdies gibt es derzeit dort, wo ein solches Fach existiert, einen ähnlichen Wildwuchs mit unterschiedlichen Fachbezeichnungen – von Gesellschaftslehre bis Weltkunde. Solche Überlegungen sollten auch nicht davon ablenken, sich auf das kurzfristig Machbare in der politischen Bildung zu konzentrieren.

  • E&W: Und das wäre?

Sander: Dafür zu sorgen, dass es an allen Schulen, in allen Bundesländern und mit ausreichender Stundenzahl politische Bildung als einen Ort gibt, an dem man mit Jugendlichen grundsätzliche wie aktuelle Fragen und Probleme von Politik diskutieren und bearbeiten kann. Und zwar auf einer fachlich gut fundierten Basis mit entsprechend qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern.

Wolfgang Sander, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Foto: Kerstin Sander