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DFB-Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz

Fußballfans, Vereins- und Fanprojektmitarbeiter haben an einer Gedenkstättenfahrt des DFB nach Auschwitz teilgenommen. Viele Vereine wollen ihre Fans über Anknüpfungspunkte an die Vereinsgeschichte für die Gräueltaten der Nazis sensibilisieren.

Fußballfans in Auschwitz. Foto: Björn Hegemann

Lukas Keuser ist Mitarbeiter des Fanprojekts in Trier. In seinem Alltag begleitet der Sozialpädagoge die Fans des in die Oberliga abgestürzten Traditionsvereins Eintracht Trier und organisiert Veranstaltungen zu Themen wie Rassismus oder Jugendkulturen. Keuser, der sich seit Jahren mit der Geschichte Trierer Juden beschäftigt, musste nicht lange überlegen, als er von der Ausschreibung der Kulturstiftung des DFB für eine Gedenkstättenfahrt nach Oświęcim hörte. Keuser bereitete gerade einen Vortrag über Heinz Kahn vor, einen jüdischen Mitbürger aus Trier, der im gleichen Zug saß wie viele Hundert Menschen, die von den Nazis in Auschwitz umgebracht wurden. Kahn überlebte. Er war bei seiner Ankunft 21 Jahre alt. Der Fußballspieler Julius Hirsch, der mit dem Karlsruher FV und mit der Spielvereinigung Fürth 1910 und 1914 Deutscher Meister geworden war, war 30 Jahre älter. Er überlebte nicht. Anlässlich des 75. Jahrestages der Deportation Hirschs fand die Gedenkstättenfahrt des DFB statt.

Unter mehr als 80 Bewerbungen wählte die Organisatorengruppe 30 Fans, Vereins- und Fanprojekt-Mitarbeiter aus, die vom 21. bis 25. März nach Polen reisten. Auf dem Programm standen der Besuch der drei großen Auschwitz-Lagerteile sowie der Stadt Oświęcim. Bevor die Nazis einfielen, lebten dort 14.000 Menschen, die Hälfte davon jüdischen Glaubens. Heute hat die Stadt 38.000 Einwohner, die alte Synagoge kann noch besichtigt werden, doch Juden leben keine mehr hier. Es sind Eindrücke und Erkenntnisse wie diese, die Keuser und den anderen im Gedächtnis bleiben werden. Wie die schrecklichen Bilder aus den Lagern.

Nach dreieinhalb Stunden Führung durch die Gedenkstätte steht die Gruppe vor einem unscheinbaren Flachbau. Ein großer Schornstein ragt heraus: Hier, im ersten Krematorium des Stammlagers, wurden die Leichen der Menschen verbrannt, die die Nazis kurz zuvor umgebracht hatten. SS-Angehörige warfen durch Dachluken Zyklon-B-Granulat in die vermeintlichen Duschräume, in Wirklichkeit Gaskammern. Bis zu einer Viertelstunde dauerte der Todeskampf der Menschen. Dann kamen die „Sonderkommandos“, meist junge Juden, die dazu gezwungen wurden, und brachen den grotesk verrenkten Leichen das Zahngold aus den Mündern.

Was ist schrecklicher? All das zu erfahren, die gusseisernen Verbrennungsöfen zu sehen? Und zu wissen, dass Millionen Menschen hier ermordet wurden. Oder zu hören, wie besorgt sich Hedwig Höß im Sommer 1944 um die Gesundheit ihrer fünf Kinder zeigte? Die Gattin des Lagerkommandanten residierte in einer konfiszierten Villa auf der anderen Seite des Zauns, etwa hundert Meter neben dem Krematorium. Berührt hat sie diese Nähe nur insofern, als sie ihre Kinder ermahnte, die Erdbeeren aus dem Garten bloß gut abzuspülen. Zuweilen hing schließlich Asche an den Früchten.

„Aber trotz allen Hintergrundwissens – es ist noch mal etwas ganz anderes, dann wirklich an der ‚alten Rampe‘ in Birkenau zu stehen und zu wissen, dass hier die Menschen selektiert wurden.“ (Lukas Keuser)

Sofort nach ihrer Ankunft ermordet wurden im Frühling des Jahres 1943 alle Menschen, die jünger als 15 oder älter als 45 Jahre waren, alle Gebrechlichen, Schwangeren. Auch Julius Hirsch, der 51 Jahre alt war, als er in Auschwitz ankam. Andere schufteten noch ein paar Wochen für Hitlers Tausendjähriges Reich, dann wurden auch sie ermordet. „Vieles habe ich natürlich gewusst“, wird Keuser nach seiner Rückkehr von der Gedenkstättenfahrt sagen. Auch über die Biografie von Hirsch. Dessen Leben als Fußballer, die Verschleppung, die Ankunft im Vernichtungslager, den kurzen Weg von der Rampe bis zur Gaskammer. „Aber trotz allen Hintergrundwissens – es ist noch mal etwas ganz anderes, dann wirklich an der ‚alten Rampe‘ in Birkenau zu stehen und zu wissen, dass hier die Menschen selektiert wurden“, sagt der Sozialpädagoge. „Hierhin der damals 21-jährige Kahn, dessen Arbeitskraft man auf der Baustelle der IG Farben in Auschwitz-Monowitz noch ausbeuten wollte – und hierhin Hirsch, den man aufgrund seines Alters gleich ermordet hat.“

Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass sich der DFB einer solchen Thematik widmet. Der sieben Millionen Mitglieder starke Verband hat immer noch das Image einer sehr konservativen Organisation. Doch zumindest im gesellschaftspolitischen Bereich hat ein Wandel stattgefunden – vor allem unter der Ägide des ehemaligen Präsidenten Theo Zwanziger. Seit 2005 vergibt der DFB einen nach Julius Hirsch benannten Preis, der Initiativen und Gruppierungen auszeichnet, die sich gegen Diskriminierung und Rechtsextremismus engagieren.

Konzipiert und organisiert haben die Gedenkstättenfahrt Daniel Lörcher, seit 2013 Fanbeauftragter bei Borussia Dortmund (BVB), der Berliner Historiker Andreas Kahrs, die Historikerin und Archivarin des Erstligisten Hertha BSC, Juliane Röleke, und Fanforscher Robert Claus. Bis er die Stelle beim BVB antrat, war Lörcher Vorsänger der größten Dortmunder Ultragruppe „The Unity“, die 2011 im Anschluss an ein Auswärtsspiel aus eigenem Antrieb Auschwitz besuchte. Auch Claus, der ein Buch über Hooligans geschrieben hat, und Kahrs, der lange in der Fanszene des FC St. Pauli engagiert war, haben keinen rein akademischen Bezug zum Fußball. Sie sind selbst Fußballfans. Wenn man mit anderen Fans spricht, vereinfacht das vieles.

„Der Ansatz, die NS-Zeit auch anhand ihrer Auswirkungen auf die Vereinsgeschichte begreifbar zu machen, hat sich bewährt.“ (Andreas Kahrs)

Vor den Fahrten, die der BVB nach Auschwitz unternahm, hatten sich die Fans lange mit der Geschichte von Hans Frankenthal beschäftigt, der 1942 nach Auschwitz deportiert worden war und 1999 in Dortmund starb. Beim FC Bayern hat eine Fangruppe eine Stiftung gegründet, die im Namen des ehemaligen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer wirkt und sich gegen Antisemitismus engagiert. Bei Schalke 04 haben Fans dafür gesorgt, dass der Verein seine NS-Geschichte aufarbeitet. Unter anderem organisierten Fans von Fortuna Düsseldorf, 1860 München, dem FC St. Pauli, Hertha BSC Berlin oder dem Karlsruher SC bereits Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz. Anknüpfungspunkte an die jeweilige Vereinsgeschichte gab es überall. Mal wurden Spieler verfolgt oder ermordet, mal Funktionäre, mal – wie bei Hertha BSC – der Mannschaftsarzt Dr. Hermann Horwitz.

„Der Ansatz, die NS-Zeit auch anhand ihrer Auswirkungen auf die Vereinsgeschichte begreifbar zu machen, hat sich bewährt“, findet Kahrs. „Und Julius Hirsch ist mittlerweile ja auch weit über Karlsruhe hinaus als historische Persönlichkeit bekannt.“ Am dritten Tag der Gedenkstättenfahrt erfahren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Details zu seinen letzten Lebensjahren, die den absurden Rassenwahn der NS-Potentaten exemplarisch zeigen. Hirsch, der sich kurz zuvor von seiner evangelischen Ehefrau Ella hatte scheiden lassen, um sie und die Kinder zu schützen, wurde am 1. März 1943 von seiner Heimatstadt Karlsruhe aus deportiert. Der Zug mit dem Zielort Auschwitz-Birkenau fuhr über Stuttgart, Dortmund, Bielefeld, Hannover und Dresden nach Osten. Überall wurden weitere Menschen in den Zug gepfercht, der mit über 1.300 Insassen aus dem gesamten Reichsgebiet in der Nacht auf den 4. März 1943 das Lager erreichte. Hirsch wurde, wie die meisten der anderen Verschleppten, vermutlich wenige Stunden nach seiner Ankunft in einer von zwei zu dieser Zeit provisorischen Gaskammern ermordet.

Hirsch war im Ersten Weltkrieg Frontsoldat. Er hat es nie verwunden, dass ihn das Land, für das er im Krieg war und für das er sieben Länderspiele bestritten hat, ausstieß. Dass die Nazis ihm nach dem Leben trachten würden, hielt er bis zuletzt für ausgeschlossen, die Möglichkeit, in die Schweiz zu fliehen, ließ er verstreichen. Hirsch war zeitlebens ein konservativer, national gesonnener Mensch. Ermordet wurde er zusammen mit Kommunisten und jungen Zionisten aus Westfalen, die kurz vor der Ausreise nach Jerusalem von den Nazis verhaftet worden waren. Auch deren Biografien bespricht die Gruppe. Denn eines will Kahrs bei aller Konzentration auf Julius Hirsch unbedingt vermitteln: „Man darf nicht so tun, als stehe er als Opfer stellvertretend für den Rassenwahn der Nazis. In Auschwitz sind Menschen ermordet worden, die nichts gemein hatten, außer, dass sie von den Nationalsozialisten zu Juden erklärt wurden.“