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Deutschlehrerin in Kopenhagen

Christina Doering hat von 2010 bis 2013 als Deutschlehrerin an der St. Petriskole in Kopenhagen eine schwierige Klasse zum mittleren Schulabschluss begleitet und musste in dieser Zeit Überschwemmungen und Aussperrungen überstehen.

Fotos: Christina Doering, Trudy Kerperien, Manfred Brinkmann, DLF

Werde ich gefragt, ob es mehr Gründe gab, die mich in den Auslandsschuldienst getrieben haben (push) als Gründe, die mich hinausgelockt haben (pull), dann ist die Antwort ehrlicherweise, dass das push-Element überwog: Mehrere Jahre hatte ich extrem negative Erfahrungen mit Schulleitungen gemacht, die mir das Leben schwer gemacht hatten.

Auch ein Schulwechsel hatte keine besseren Bedingungen hergestellt. So stand ich vor der Wahl, in die innere Emigration zu gehen und die Jahre bis zur Pensionierung zu zählen oder noch einmal etwas ganz anderes zu wagen. Nachdem meine Tochter es mir vorgemacht hatte – sie hat ein Jahr einen sozialen Dienst in Israel abgeleistet – beschloss ich, mich auf ein ähnliches Abenteuer einzulassen.

Anpassungsleistung größer als erwartet

Nach 1 ½ Jahren Wartezeit wurde es … Dänemark. Böse Zungen witzelten, der Kulturschock, den ich erleben würde, falls ich nach München ginge, wäre größer als der, den ich im Nachbarland zu erwarten hätte. Nach 3 Jahren Leben und Arbeiten in Dänemark kann ich ganz entschieden sagen: Das stimmt nicht! Die geforderte Anpassungsleistung war größer als erwartet und stellte sich als eine enorme Herausforderung heraus. Das andere stimmt aber auch: die 3 Jahre Dänemark waren eine großartige Erfahrung, die ich in meinem Leben nicht missen möchte.

Aus Familienurlauben weiß man: Die Dänen sind freundliche Menschen. Doch will man dort leben, gibt es viele Hürden zu nehmen, um dort überhaupt erst einmal Mensch sein zu können: Man braucht als erstes eine Identitätskarte – ohne Identitätskarte geht gar nichts. Bevor man sie bekommt, muss man im Ausländeramt als Bürger Dänemarks zugelassen sein, eine Prozedur, die ein paar Wochen dauert. Ohne Identitätskarte kann man aber kein Bankkonto eröffnen oder auch nur einen Arzt besuchen.

Selbst wenn man sie hat, ist man z.B. bei der Bank noch nicht vertrauenswürdig: Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich eine Checkkarte erhielt, mit der ich im Alltag bezahlen konnte. Ohne Karte konnte ich z.B. keine Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr am Automaten kaufen und musste jedes Mal zum Hauptbahnhof. Es dauerte Wochen, bis Internet und Fernsehen funktionierten. Fehler sind an der Tagesordnung und müssen per Anruf angemahnt werden. Wie habe ich die elektronische Ansage gehasst: „Du har tre valgmuligheder, har du spørsmål til … Wenn man (noch) kein Dänisch kann, kann einen das zum Verzweifeln bringen.

Wohnung unter Wasser

Auch später musste ich die unangenehme Erfahrung des Ausgeliefertseins machen. In der Anfangshektik hatte ich es versäumt, eine Versicherung abzuschließen, was sich rächen sollte. Ich war schon 1 Jahr im Land, als ein Unwetter mit extremem Starkregen die gesamte Innenstadt unter Wasser setzte. Auch in meine Wohnung trat Wasser ein. Gut, dachte ich mir, man braucht sein Herz ja nicht an Dinge zu hängen, und habe fleißig unbrauchbare Möbel und noch nicht ausgepackte Umzugskisten in den riesigen im Wohngelände aufgestellten Containern entsorgt. Diesen Schaden war ich bereit auf meine Kappe zu nehmen.

Was dann folgte, aber nicht: Die Wohnungsgesellschaft stellte mir (erwartungsgemäß) eine Ersatzwohnung für die Zeit der Instandsetzung. Als bereits der Möbelwagen bestellt war, wurde mir ein komplett neuer Mietvertrag vorgelegt, den ich unterschreiben musste, was bedeutete, dass ich ein Depositum von 3 Monatsmieten zusätzlich beschaffen musste. Außerdem erfuhr ich beim Rückzug 2 Monate später, dass ich hätte kündigen müssen, was ich nicht getan hatte. Wer kommt bei einer Ersatzwohnung schon auf so einen Gedanken? Das Ende vom Lied war, dass ich einen Monat für 2 Wohnungen Miete bezahlen musste, und das bei den exorbitanten dänischen Preisen.

Beim zweiten Mal ist man schlauer

Rechtliche Auseinandersetzungen zogen sich hin, ohne dass ich damit Erfolg gehabt hätte. Kaum war ich soweit, innerlich mit diesem Ärgernis abzuschließen, gab es eine unerwartete Fortsetzung. Eines Abends saß ich friedlich auf meinem Sofa, als es plötzlich einen explosionsartigen Knall gab und von der Spüle her mit hohem Druck eine Wasserfontäne über Küchenzeile und Wohnzimmer spritzte. Verzweifelt suchte ich nach einem Abstellhahn (den es nicht gab, sondern nur eine kleine Schraube) und inzwischen wurde meine Wohnung erneut geflutet.

Mit Hilfe der Nachbarn kam nach einer Viertelstunde ein Notdienst, sehr schnell, aber für meine Wohnung zu spät. Dieses Malheur war auf einen Anschlussfehler der Handwerker zurückzuführen, der bei der Renovierung des vorangegangenen Wasserschadens entstanden war. Was mir jetzt bevorstehen würde, kannte ich nun schon. Dieses Mal war ich aber schlauer und habe bei der Schulsekretärin eine vorübergehende Unterkunft gefunden, sodass mir außer Stress und Ärger kein weiterer Schaden entstand.

Unterrichtsausfall durch Aussperrung

Es gibt noch eine dritte negative Erfahrung, die ich in diesem Fall mehr als Außenstehender staunend zur Kenntnis nahm. In den letzten Monaten meines Dänemarkaufenthalts kam es zur Auseinandersetzung zwischen Kommunen und Lehrergewerkschaft über die Arbeitszeit. Zum einen sollte die wöchentliche Arbeitszeit um mehrere Stunden nach oben aufgestockt werden; es sollte eine ganztägige Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz eingeführt werden und den Schulen sollte ein Stundenpool zugewiesen werden, über den die Schulleiter entscheiden sollten.

Letzteres bedeutete demnach, dass die jeweiligen Schulleiter über die Höhe der Unterrichtsstunden einer Lehrkraft befinden sollten, ohne dass allgemeingültige Richtlinien vorgesehen waren. Dieser Plan war für die Gewerkschaft inakzeptabel. Nun sollte man erwarten, dass in der Gewerkschaft über Arbeitskampfmaßnahmen diskutiert würde. Weit gefehlt – dazu kam es nämlich gar nicht.

Der Arbeitgeber griff sofort, ohne dass ein einziges Arbeitskampfmittel der Gewerkschaft eingesetzt worden wäre, zum äußersten Mittel: zur Aussperrung. Einen Monat lang waren in ganz Dänemark die Schulen weitgehend geschlossen (Beamte mussten weiter arbeiten, aber davon gibt es in Dänemark nicht viele) und die Kinder mussten anderweitig untergebracht werden. Eine Handvoll ADLKs in der St. Petriskole in Kopenhagen blieb übrig und wurde in einem Notprogramm eingesetzt.

So unterrichtete ich einen Tag lang eine einzige Klasse in Deutsch, damit die Kinder wenigstens einen Tag am Stück versorgt waren. Am nächsten Tag kam die nächste Klasse dran. Einzelne Kinder und Lehrer geisterten durch die leeren Gebäude, und das wochenlang. Man stelle sich vor, was in einer vergleichbaren Situation in Deutschland passieren würde. In Dänemark jedenfalls passierte nichts. Die Eltern ärgerten sich zwar, nahmen aber alles mit Gleichmut hin.

Nach einem Monat wurde die Aussperrung durch die Regierung beendet, indem der ursprüngliche Plan zu 100% per Gesetz aufoktroyiert wurde. Es gab noch nicht einmal die Spur eines Kompromisses. Alle Lehrer hatten ein ganzes Monatsgehalt verloren und mussten völlig frustriert die Arbeit wieder aufnehmen. Unter diesen Bedingungen fiel mir der Abschied nicht schwer.

Flächendeckende Gesamtschulen

Trotz dieser schwierigen Erfahrungen kam ich nach 3 Jahren mit Elan und neuer Motivation nach Hamburg zurück, was bis heute anhält. Damit das verständlich wird, muss auch von der anderen Seite Dänemarks gesprochen werden.

Das, was mir die Freude an der Arbeit zurückgegeben hat, waren die pädagogischen Bedingungen an der Schule. Die Kinder sind nicht anders als in Deutschland und fordern Engagement und Energie. Ich habe 3 Jahre eine vielleicht besonders schwierige Klasse bis zu ihrem mittleren Schulabschluss geführt. Mit dem Abschluss nach 10 Jahren ist in Dänemark die erste große Etappe erreicht, da alle Kinder gemeinsam in flächendeckenden Gesamtschulen unterrichtet werden. Erst danach findet eine Differenzierung in gymnasiale, fachspezifische oder berufliche weiterführende Schulen statt.

Nach 30 Jahren Unterricht an Gymnasien musste ich mich neu einstellen: Vom Leistungsniveau her gab es Kinder, die in jedem deutschen Gymnasium zur Spitzengruppe gehört hätten, aber auch Migrantenkinder, die mit der Sprache Deutsch bereits die 5. oder 6. Sprache lernen mussten, durch schwierige Lebensumstände überfordert waren und mit den schulischen Anforderung kaum Schritt halten konnten.

Vielfältige Unterstützung und Zusammenarbeit

Viele Kinder hatten es auch aus privaten Gründen nicht leicht: Ein Junge musste den Tod der Mutter verkraften, ein anderer bekam unterschwellig die schwere Krebserkrankung seines Vaters mit, ein Mädchen litt unter Bulimie, ein Kind war extrem phobisch, wieder ein anderes Kind wurde wegen Selbstmordgefährdung behandelt. Auf der anderen Seite stand ein Kind, das mit wechselnden Koalitionen Mobbing betrieb. Das war eine Mischung, die wenig „Wohlfühlen“ (dänisch: „trivsel“, ein hoher Wert, um den man sich in der Schule, aber auch an jedem anderen Arbeitsplatz ganz besonders bemüht) aufkommen ließ.

Ich war sehr dankbar dafür, was in dieser Situation an Hilfen vor Ort und vom dänischen Staat bereitgestellt wurde. Zum einen gab es eine intensive und produktive Zusammenarbeit mit den Eltern der betroffenen Kinder – Eltern in Dänemark fragen nicht zuerst, was ihre Kinder leisten, sondern ob es ihnen in der Schule gut geht. Wir haben z.B. mit der Mutter wenige Tage vor ihrem Tod besprochen, wie wir mit ihrem Sohn danach umgehen können. Wir haben mehrfach mit den Eltern des Mobbingopfers und –täters besprochen, welche Regeln einzuhalten möglich und hilfreich waren. Auf disziplinarischer Ebene wird in solchen Fällen kaum etwas gelöst.

Für die Betreuung der Essstörung gab es eine Krankenschwester an der Schule, die jedes Kind bereits kannte durch alljährlich stattfindende Gespräche. Im Fall des depressiven Schülers konnten wir über den Schulpsychologen Extrastunden beantragen für regelmäßige Gespräche und teilweise sogar Begleitung im Unterricht. Für das Umgehen miteinander in der Klasse konnten wir externe Psychologen einladen, die Projekttage mit den Kindern gestaltet haben und die auch danach für weiterführende Anfragen zur Verfügung standen (das musste allerdings von der Schule bezahlt werden – was aber auch gemacht wurde). Es gab also eine Fülle von Interventionsmöglichkeiten, wie ich sie in diesem Ausmaß in Hamburg nie erlebt hatte.

Gemeinschaftliche Konfliktlösung

Alle diese Maßnahmen waren gut und hilfreich, aber der entscheidende Umschwung passierte dann im letzten Jahr. Ein Schüler meiner 10. Klasse hatte zwei Sechstklässler geschlagen. Hintergrund war, dass dieser Schüler permanent von den kleineren Jungen wegen seiner arabischen Herkunft lächerlich gemacht worden war. Eben zu dieser Zeit war auch das geschmacklose Mohammed-Video im Internet zu sehen. Alles zusammen hatte den arabischen Jungen so in die Ecke gedrängt, dass er losgeschlagen hatte. Die ganze Klasse stand zu dessen Verteidigung bereit, wohl erwartend, dass seine aggressive Handlung auf’s Schärfste kritisiert würde.

Aber genau das passierte eben nicht. Wir erarbeiteten gemeinsam Gesprächsstrategien, wie dieser Junge in einem Treffen mit den Sechstklässlern sich einerseits entschuldigen, andererseits aber auch seine Lage deutlich machen konnte. Klassenkameraden sollten ihm, wenn es nötig wurde, helfen, denn verbal war er nun wirklich nicht der Geschickteste. Die Klassenlehrer der kleineren Jungen sprachen mit denen, beschwichtigten deren aufgeregte Eltern und bereiteten gemeinsam mit mir das Gespräch vor.

Als wir uns dann schließlich in einer Runde von etwa 10 Kindern und Lehrern trafen, begann der arabische Junge mit einer tief beeindruckenden Rede, in der er seinen Fehler eingestand, aber auch ganz ehrlich über seine Gefühle sprach. So etwas wird er nie zuvor in seinem Leben gemacht haben. Auch die jüngeren Kinder waren beeindruckt und konnten ihren Anteil an dem Konflikt verstehen.

Großes Geschenk

Nach diesem Erlebnis gab es plötzlich eine befreite, fröhliche Stimmung in der Klasse, die das Arbeiten leicht machte und auch die Prüfungsphase am Ende des Schuljahres bestens überstehen ließ. Zu Beginn der 10. Klasse hatten alle vorgehabt, die Schule zu verlassen, ohne weiteren Kontakt mit den seit 10 Jahren bekannten Klassenkameraden zu halten. Am Ende flossen die Tränen und man wollte nicht auseinandergehen.

Auch für mich ist der Weg mit dieser Klasse das größte Geschenk, was ich aus meiner Zeit in Dänemark mitgenommen habe. Hatte ich in den Jahren zuvor zeitweise vergessen, warum ich gern Lehrerin bin, habe ich in der Arbeit mit diesen Kindern wieder erfahren, wie befriedigend es ist, junge Menschen auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten, und ich wünsche mir, dass dieses Gefühl erhalten bleibt, auch wenn hier deutlich mehr Leistungsdruck und Schulstress für die Kinder herrschen und die Lehrerarbeitszeit viel mehr mit Prüfungen, Korrekturen, Bürokratie und dem Hinterherjagen hinter ständig neuen Behördenvorgaben ausgefüllt ist.

 

Die deutsch-dänische Sankt Petri Schule im Zentrum von Kopenhagen hat 400 Jahre Geschichte