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Der versteckte Mangel

Das Onlineportal der Landesregierung Schleswig-Holstein listet zwar nur wenige offene Stellen. Doch es fehlt an Grundschulen und beruflichen Schulen auf dem Land immer mehr pädagogisches Personal. Und eine Pensionierungswelle steht noch bevor.

Die GEW Schleswig-Holstein demonstrierte mit Pappfiguren vor dem Bildungsministerium. Foto: Ulf Stephan, Arbeiterfotografie Kiel

Der Speisesaal ist an diesem Tag Klassenzimmer: Rund 50 Mädchen und Jungen sitzen in kleinen Gruppen an den runden Tischen, die Köpfe sind über Hefte und Bücher gebeugt. Obwohl die meisten Kinder konzentriert arbeiten, liegt leises Stimmengewirr in der Luft. „Fachkräftemangel live“, sagt Dörte Simonsen (Name von der Redaktion geändert). Die erfahrene Lehrerin gehört dem Leitungsteam ihrer Grundschule an, die in einer Kleinstadt an der Westküste von Schleswig-Holstein liegt. Die Schule muss nicht nur zur Grippezeit mit zu wenig Personal auskommen. Schon an normalen Tagen sitzen 32 Kinder in einer Klasse. Meldet sich eine weitere Kollegin krank, werden Gruppen zusammengelegt. Kein Einzelfall: „Der Lehrermangel springt uns förmlich an“, sagt die Landtagsabgeordnete Jette Waldinger-Thiering vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW).

In der Grundschule an der Küste ertönt der Pausengong, in der Landeshauptstadt Kiel diskutiert unterdessen das Parlament über die Unterrichtsversorgung. Während die Politik streitet, behelfen sich die Schulen im Land zwischen Nord- und Ostsee notgedrungen pragmatisch. Pensionäre werden aus dem Ruhestand zurückgeholt, vor allem aber stehen immer öfter Fachfremde im Klassenzimmer.

„Wir würden gern mehr Lehrkräfte einstellen, wenn es denn welche gäbe.“ (Karin Prien)

Auf den ersten Blick scheint die Lage entspannt: Das Onlinesuchportal der Landesregierung nennt nur 20 freie unbefristete Stellen und vier Angebote für Vertretungskräfte. Doch die Wahrheit sieht anders aus: „Wir suchen ständig“, sagt Simonsen. „Und das geht vielen Schulen so.“ In der Regierung ist das Problem angekommen. „Sie laufen bei mir offene Scheunentore ein“, sagte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) im November 2017. Damals hatte die GEW mit Pappfiguren vor dem Ministerium demonstriert – jede stand für eine Lehrkraft, die irgendwo im Land fehlt.

„100 Prozent Unterrichtsversorgung“ hatte die CDU im Wahlkampf 2017 versprochen, und schon im November, nach der gewonnenen Wahl, erklärte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) das Ziel für erreicht. Auf Nachfrage des SPD-Bildungsexperten Martin Habersaat räumte das Bildungsministerium allerdings ein, dass 100 Prozent nicht 100 Prozent abdecken, sondern „den Stellenbedarf der Kontingentstundentafel inklusive der Berücksichtigung weiterer rechtlicher Vorgaben“ – sprich: Eine Stunde, die ausfällt, weil eine Lehrkraft wegen Leitungsaufgaben anderweitig beschäftigt oder auf Klassenfahrt ist, gilt auf dem Papier als Unterricht.

„Das Problem des Fachkräftemangels ist nicht allein in Schleswig-Holstein zu beobachten und keines, das ich der jetzigen Landesregierung anlaste“, sagt Habersaat. „Allerdings werfe ich der CDU vor, dass sie wider besseren Wissen eine Unterrichtsgarantie gegeben hat.“ Ministerin Prien kontert, Habersaats Berechnung sei „politisch unredlich“, schließlich würde bundesweit nach diesem Schema gerechnet. Sie verweist darauf, dass bereits die SPD-geführte Vorgängerregierung Quereinsteiger an die Schulen geholt habe. Habersaats Kritik daran sei „Heldentum nach Ladenschluss“. Aber die Ministerin sagt auch: „Wir würden gern mehr Lehrkräfte einstellen, wenn es denn welche gäbe.“

Lücken tun sich vor allem im Randgebiet zu Hamburg auf, aber auch in den strukturschwachen Regionen an der Nordsee.

Die vorherige Landesregierung aus SPD, Grünen und dem SSW wollte mit einer Reform der Lehrerausbildung mehr Studierende in den Norden holen, in der Hoffnung, dass diese nach der Ausbildung im Land bleiben. Der Nachwuchs an den Standorten Kiel und Flensburg wird nicht mehr nur für eine weiterführende Schulart ausgebildet, sondern kann sowohl am Gymnasium als auch an der Gemeinschaftsschule unterrichten. Gegner der Reform warnten vor dem „Einheitslehrer“, Befürworter lobten den Ansatz als hilfreich für die Arbeit in heterogenen Klassen. Nur: Bis heutige Studierende dort ankommen, vergehen Jahre. In der Zwischenzeit steht eine Pensionierungswelle an – rund 3.800 Lehrkräfte sind über 55 Jahre alt.

Doch die Landesregierung ist optimistisch. Der Haushaltsplan für 2018 sieht eine Aufstockung der Lehrkräftezahl vor. Statt knapp 500 Stellen zu streichen, wie dies frühere Pläne vorsahen, sollen knapp 400 dazukommen – rechnerisch also ein Plus von fast 900 Stellen. Wie diese zu besetzen sind, ist jedoch unklar. Lücken tun sich vor allem im Randgebiet zu Hamburg auf, aber auch in den strukturschwachen Regionen an der Nordsee. Besonders betroffen sind berufliche Schulen und Grundschulen. „Eine eklatante Fehlplanung“, meint Oleg Gussew. „Jahrelang gab die Politik die Parole ,Sparen und Stellen kürzen’ aus. Jetzt versucht man gegenzusteuern, aber zu wenig und zu spät.“ Der Junglehrer für Englisch und Russisch ist für das Gymnasium ausgebildet und überbrückte die Wartezeit auf das Referendariat als Grundschullehrer. „Die Arbeit ist nicht minder wichtig als in der weiterführenden Schule, aber durch die schlechtere Besoldung – A12 statt A13 – wollen weniger dorthin.“ Er selbst ist froh, den Sprung ans Gymnasium geschafft zu haben, seine Bewunderung für die Grundschulkolleginnen und -kollegen aber bleibt: „Die haben mit Inklusion, Deutsch als Zweitsprache, fachfremdem Unterricht und engen Personaldecken wirklich viel zu stemmen.“

Mit seinem Lehramtsstudium war Gussew an der Grundschule eine Aushilfskraft erster Klasse. Die meisten Quereinsteiger bringen solche Kenntnisse nicht mit. Dennoch setzt das Bildungsministerium verstärkt darauf, Nichtpädagogen an die Schulen zu holen. Das Land habe damit gute Erfahrungen gemacht, sagte Kultusministerin Prien zu Schuljahresbeginn. Voraussetzung ist ein mit Top-Note abgeschlossenes Fachstudium, etwa in Geschichte oder Mathe. Die Einsteiger können an beruflichen wie allgemeinbildenden Schulen und neuerdings auch im sonderpädagogischen Bereich arbeiten. Eine Verbeamtung ist möglich.

„Klar kriegt man Hilfe, aber nur, weil die Kollegen ihre Freizeit und Pausen opfern.“ (Oleg Gussew)

Der Lockruf des Ministeriums verhallt nicht ungehört. Aktuell unterrichten nach Berechnungen der Opposition und der GEW landesweit auf etwas unter 1.000 Stellen rund 2.000 Menschen, die keine Lehramtsausbildung haben oder sich als Quereinsteiger noch in der Ausbildung befinden. Das Ministerium sieht diese Zahl kritisch – offizielle Daten zur Gesamtsituation und Unterrichtsversorgung werden gerade erst erhoben. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage teilte das Haus allerdings mit, dass an allgemein- wie berufsbildenden Schulen rund 23.000 Wochenstunden von Lehrenden ohne zweite Staatsprüfung erteilt werden. Das entspricht an den allgemeinbildenden Schulen rund 3 Prozent des Unterrichts.

Ohne pädagogische Erfahrung kann der Schulalltag hart sein, das weiß Lehrerin Simonsen: „Es kommt vor, dass ein Kind sich auf den Boden wirft und weint. Andere sind überfordert von den einfachsten Arbeitsaufträgen. Die dritten langweilen sich, weil sie unterfordert sind.“ Und für die Schulen wird es schwierig, wenn sich Aushilfslehrkräfte weder im Referendariat noch in der Qualifizierungsphase für einen Seiten- oder Quereinstieg befinden. Dann stehen der Schule keine Extrastunden zu, um die Neulinge „gezielt auf den Schuldienst vorbereiten und pädagogisch-didaktisch qualifizieren“ zu können, wie es das Ministerium verspricht. Auch Mentoren solle es geben – diese Auskunft bringt die GEW-Landesvorsitzende Astrid Henke „richtig auf die Palme“: „Das hat mit der Realität in den Schulen nichts, aber auch gar nichts zu tun.“ Der ehemalige Aushilfslehrer Gussew bestätigt: „Klar kriegt man Hilfe, aber nur, weil die Kollegen ihre Freizeit und Pausen opfern.“

Kollegialität, innovative Ideen und gute Nerven – mit diesen Zutaten behilft sich auch Simonsens Schule. Von der Politik fühlt sich die Lehrerin im Stich gelassen. Nicht nur wegen des Gehaltsunterschiedes, der die Grundschulkräfte schlechterstellt, sondern obendrein durch neue Richtlinien der Regierung: „Viele Schulen haben ihre pädagogischen Konzepte geändert und die Noten abgeschafft – jetzt müssen sie wieder her.“

Gegen Mangel helfen nur bessere Arbeitsbedingungen!

Ob Kita, Schule, Krankenhaus, Handwerk oder Verwaltung – der Fachkräftemangel betrifft in Schleswig-Holstein viele Bereiche. Was tun? Für mehr Bildung und bessere Arbeitsbedingungen sorgen! Macht die Politik bisher aber nicht. Statt zum Beispiel in den Kitas die Arbeitsbelastungen zu reduzieren, um gut qualifizierte Kolleginnen im Job zu halten, sinniert sie über eine Verschlechterung der Ausbildung. Statt an den Schulen auf eine Charmeoffensive für Lehrkräfte zu setzen, hagelt es seitens der Bildungsministerin absurde Vorwürfe an die Grundschullehrerinnen wegen „Kuschelpädagogik“. Mehr Studien- und Ausbildungsplätze für den Vorbereitungsdienst bringt die Regierung auf den Weg. Gut so! Reicht aber vom Umfang nicht aus. Qualifizierung von Vertretungslehrkräften, Wertschätzung, alternsgerechte Arbeitsplätze, A13 sofort! Das wäre ein erfolgversprechendes Programm, um Lehrkräfte zu gewinnen und zu halten!

Astrid Henke, GEW-Vorsitzende Schleswig-Holstein