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Demokratieerziehung an Schulen

Anschläge auf Flüchtlingsheime, antisemitische Attacken und Rechtspopulismus: Schulen sollen mit Demokratieerziehung gegenhalten. Welche Konzepte für politische Bildung gibt es – und welchen Stellenwert haben welche Unterrichtsfächer?

Pegida Demo in Dresden. Foto: dpa

Sachsens Kultusministerin fand deutliche Worte: Es sei „alarmierend“, dass junge Menschen im Freistaat derartige Haltungen teilten, befand Brunhild Kurth (CDU) im Dezember 2016. Der „Sachsen-Monitor“, eine repräsentative Umfrage, hatte ergeben: 29 Prozent der 18- bis 29-Jährigen im östlichen Bundesland sind der Auffassung, die Verbrechen des Nationalsozialismus würden in der Geschichtsschreibung übertrieben. 35 Prozent der jungen Sachsen stimmten der Aussage zu, „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit die Opfer waren“. 46 Prozent fordern, Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden. Ministerin Kurth beklagte diese „menschenfeindlichen oder gar rechtsradikalen Einstellungen“. Sie forderte, „dass wir an Schulen nicht zur Tagesordnung übergehen dürfen“. Man müsse „der Qualität der politischen Bildung noch größere Aufmerksamkeit schenken“. Doch was ist mit politischer Bildung an Schulen gemeint? Wie sieht der Unterricht aus?

Foto: Matthias Holland-Letz

Dresden, Gymnasium Klotzsche. Ein nüchternes Gebäude mit Flachdach, drei Geschosse, erbaut zu DDR-Zeiten. In Raum 119 sitzen 25 Mädchen und Jungen der Klasse 9d. In „Gemeinschaftskunde, Rechtserziehung, Wirtschaft“ geht es heute um Medien. „Welche Zeitungen sind politisch wie einzuordnen?“, fragt Lehrer Arnold Rogge. Ein Mädchen zeigt auf: „Die Süddeutsche Zeitung ist eher Mitte-Links.“ Eine Mitschülerin weiß: „Rechts ist die Junge Freiheit.“ Die Klasse spricht über Pressefreiheit, Medienkonzerne und Konkurrenz durch kostenlose Angebote im Internet. Der 14-jährigen Nancy missfällt am Internet, „dass da jeder Volltrottel reinschreiben darf, was er will“. Lehrer Rogge erklärt: Der Journalist, der in einer Zeitungsredaktion als „Torwächter“ auftrete und Meinungen oder Informationen filtere, „der fällt im Internet oft weg“.

Fachleute beklagen, dass es an Ressourcen für politische Bildung an Schulen fehlt. Aktuelle Zahlen liefern Professor Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak, Sozialwissenschaftler an der Universität Bielefeld. Die beiden untersuchten in allen Bundesländern, wie viel Prozent des Gesamtunterrichts laut Lehrplan für politische Bildung vorgesehen seien. Ergebnis für Gymnasien, Sekundarstufe 1: Spitzenreiter Hessen kommt auf 4,38 Prozent. Sachsen landet auf Platz elf mit 2,01 Prozent. Schlusslicht Bayern hat lediglich 0,52 Prozent zu bieten. Für nichtgymnasiale Schulen, ebenfalls Sekundarstufe 1, ermittelten die Bielefelder Forscher: Platz eins für Schleswig-Holstein und NRW (jeweils 3,46 Prozent). Auf Platz acht landet Sachsen (2,08 Prozent). Die rote Laterne trägt Berlin (1,06 Prozent).

Gemeinschaftskunde, Politik und Recht, Sozialkunde – das Fach für politische Bildung hat in jedem Bundesland einen anderen Namen. Die Vermittlung von Wissen reiche nicht aus, bemängeln Fachleute. Zur politischen Bildung gehöre, dass Schülerinnen und Schüler eigene Erfahrungen mit Demokratie sammelten. Dass sie erleben, wie schwer es sein kann, andere Meinungen zuzulassen. Wie schmerzhaft Kompromisse mitunter sind. Dies zu lernen, forderte bereits vor 100 Jahren der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey: „Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“ 

Welche Möglichkeiten bietet das Gymnasium Klotzsche, an demokratischen Prozessen teilzuhaben? „Wir können abstimmen, wann wir den Kuchenbasar machen“, antwortet Florian, 15 Jahre. Mitunter geht auch mehr, wie die gleichaltrige Anne aus der 10c berichtet. „Unser Essensanbieter war nicht gut“, erzählt sie. Die Klassensprecherinnen und -sprecher der Schule forderten – unterstützt von den Eltern –, diesen Missstand zu beseitigen. Mit Erfolg. „Wir haben den Anbieter gewechselt“, berichtet Anne. „Von allein wäre unsere Schulleitung nicht draufgekommen.“

„Wir brauchen bezahlte Zeit für Lehrkräfte – damit sie sich qualifizieren können und Arbeitszeit für Aktivitäten in der Schule haben.“ (Peter Fauser)

Allerdings: Was üblicherweise an schulischer Mitbestimmung angeboten wird, sei „demokratiepädagogisch wenig wirksam“. So formuliert es ein Gutachten aus dem Jahr 2001. Die Professoren Wolfgang Edelstein vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin und Peter Fauser, Schulforscher an der Universität Jena, forderten darin, Schülerinnen und Schüler „Teilhabe an der Schule“ zu ermöglichen. Dies lasse sich auf vielerlei Weise realisieren. Durch Projekte zur Streitschlichtung oder ein Schülerradio. Durch einen „Runden Tisch zur Verhandlung einzelner Probleme“. Oder gar durch eine Schulrepublik „nach dem Modell der direkten Demokratie“. Das Gutachten skizzierte – im Auftrag der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) – wie ein Programm zur politischen Bildung aussehen könnte.

Kurz nach Erscheinen der Expertise im Jahr 2002 startete das BLK-Programm „Demokratie lernen & leben“, an dem sich bis zum Jahr 2007 insgesamt 200 allgemeinbildende und berufliche Schulen aus 13 Bundesländern beteiligten. Sie probierten aus, wie sich die Vorschläge von Edelstein und Fauser in Unterricht und Projektwochen umsetzen lassen. Bildungspolitische Bilanz? Forscher Fauser, heute im Ruhestand, zeigt sich ernüchtert. In Sachen Demokratieerziehung sei „nichts Einschneidendes passiert“. „Wir brauchen bezahlte Zeit für Lehrkräfte – damit sie sich qualifizieren können und Arbeitszeit für Aktivitäten in der Schule haben.“ Er plädiert dafür, an jeder Schule einen „Demokratiebeauftragten“ einzustellen. Die politisch Verantwortlichen hätten in jedem Bundesland zumindest „ein paar Stellen“ schaffen müssen. „Doch dafür gibt es kein Geld.“

Fauser sieht allerdings auch positive Entwicklungen. So hätten Fachleute und Bildungspraktiker, die am BLK-Programm mitwirkten, die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. (DeGeDe) gegründet. Diese habe heute „in fast allen Bundesländern aktive Protagonisten“. Zudem gebe es das Förderprogramm Demokratisch Handeln, das bundesweit Schulprojekte unterstützt. Finanzielle Hilfen für diese und andere zivilgesellschaftliche Initiativen kämen von Bund, Ländern und Stiftungen. Fauser betont jedoch: Die Mittel dieser Initiativen seien begrenzt, es handele sich um Demokratiepädagogik „in homöopathischen Dosen“.

Chemnitz. Im Zentrum der Stadt liegt die Annenschule, eine Oberschule mit 300 Schülerinnen und Schülern. Sie führt zum Realschulabschluss – und zeigt, wie Demokratieerziehung heute aussehen kann. Seit 2007 gelte hier ein besonderes Schulkonzept, das „Blaue Band“, berichtet Schulleiterin Ulrike Schulz. „Unsere Doppelstunden dauern statt 90 Minuten 70 Minuten.“ Die so gewonnene Unterrichtszeit werde für die „Teamstunde mit dem Klassenlehrer“ oder für die „KOMMzeit“ genutzt. In der Teamstunde habe die Klasse 70 Minuten Zeit, um Probleme zu diskutieren. „Wie geht man miteinander um?“, nennt Schulz als Beispiel. Die Teamstunde befasst sich zudem mit Themen wie „Mitschüler/Eltern aus Afrika berichten“ oder „Akzeptanz anderer Lebensweisen“. Das Besondere an der KOMMZeit: Alle Schulräume stehen offen. Die Schülerinnen und Schüler können entscheiden, in welchen Raum sie gehen und zu welcher Lehrkraft. Also: „Welches Fach wähle ich und welche Frage habe ich?“ Die Schulleiterin: „Auch das ist Demokratie.“

Als Problem der politischen Bildung in der Schule beklagen Fachleute auch den hohen Anteil fachfremd erteilten Unterrichts. Etwa in Hessen: An Gymnasien und den Gymnasialzweigen der Kooperativen Gesamtschulen, so der GEW-Landesverband, würden in Politik und Wirtschaft (PoWi) zwischen 33 Prozent und 57,1 Prozent der Stunden von Lehrkräften übernommen, die nicht speziell dafür ausgebildet sind. An Haupt- und Realschulen „werden Geschichte und PoWi in so hohem Maße fachfremd unterrichtet wie kein anderes Fach außer Arbeitslehre“. Von wenigen Ausnahmen abgesehen liege der Anteil durchgehend bei über der Hälfte der Unterrichtsstunden. Auf ein weiteres „Ärgernis“ verweist Professor Wolfgang Sander, Sozialwissenschaftler an der Uni Gießen. Er kritisiert, dass „einschlägige Lobbygruppen“ ein eigenes Fach Wirtschaft forderten. Dies hätte die „Herauslösung wirtschaftsbezogener Gegenstände aus der politischen Bildung“ zur Folge. Beides gehöre aber „wegen der engen sachlichen Überschneidungen zwischen Politik und Wirtschaft“ zusammen.

Gerade berufliche Schulen seien „hochattraktive Orte für die politische Bildung“, betont Anja Besand, Professorin für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden. Denn Gemeinschaftskunde oder Wirtschafts- und Sozialkunde würden „in nahezu allen beruflichen Ausbildungsbereichen unterrichtet“, so Besand in einer Studie von 2014. Keine andere Schulform erreiche zudem so viele Schülerinnen und Schüler. „Von Abiturientinnen über Schülerinnen und Schüler aus der Hauptschule und den Förderschulen ist hier alles vertreten“, unterstreicht Besand. Die Forscherin sieht allerdings eine Vielzahl von Problemen. So habe die politische Bildung an Berufsschulen „echte Schwierigkeiten, als Bildungsbereich ernst genommen zu werden“. Auch Schülerinnen und Schüler glaubten häufig, berufsrelevante Qualifikationen seien wichtiger.

Ab dem Schuljahr 2019/2020 wird Gemeinschaftskunde an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen bereits ab Klasse 7 unterrichtet.

Zurück nach Sachsen. Nach Erscheinen des „Sachsen-Monitors“ setzte Kultusministerin Kurth ein Expertengremium ein. Dieses erarbeitete bis Juni 2017 ein Handlungskonzept mit dem Titel: „W wie Werte“. Das Gremium empfahl, die „Partizipationsmöglichkeiten“ der Schülerinnen und Schüler zu erweitern. Netzwerke wie „Schule ohne Rassismus“ sollten ausgebaut werden. Es gelte, in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften „Demokratische Schulkultur“ und „Demokratieentwicklung“ zu behandeln. Und: „Insbesondere das Fach Gemeinschaftskunde“ sei zu stärken. Es soll an Oberschulen und Gymnasien bereits in Klasse 7 angeboten werden – und nicht wie bisher erst in Klasse 9. Auch an Berufsschulen soll das Fach künftig ab der ersten Klassenstufe Pflicht sein. Das sächsische Kultusministerium reagiert auf Empfehlungen. Auf Anfrage von E&W bestätigte es: Ab dem Schuljahr 2019/2020 wird Gemeinschaftskunde an allgemeinbildenden Schulen bereits ab Klasse 7 unterrichtet. Einen „Anstieg der Unterrichtsbelastung“ werde es aber nicht geben. Geplant sei „an anderer Stelle eine Entlastung“. Näheres werde derzeit diskutiert. Wie ein Mehr an Gemeinschaftskunde an berufsbildenden Schulen aussehen könnte, sei noch nicht entschieden.

Die Frauen und Männer des Expertenkreises forderten außerdem: Vertrauenslehrkräfte, die die Mitbestimmungsarbeit von Schülerinnen und Schülern unterstützen, sollten entlastet werden. Und bei gleichem Gehalt mindestens eine Stunde pro Woche weniger unterrichten. Doch in der Frage zeigte sich Ministeriumssprecher Dirk Reelfs zurückhaltend: Diese Maßnahme werde möglicherweise erst umgesetzt, „wenn sich die sehr angespannte Lage auf dem Lehrerarbeitsmarkt entspannt“.