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Coronapandemie

Distanzunterricht die Zweite

Fliegende Bücher und Service als Privatsekretärin - eine Lehrerin und Mutter berichtet hautnah aus dem normalen Wahnsinnsalltag im Homeschooling.

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Konsequenter Video-Unterricht könnte für viele Kinder, Lehrkräfte und Eltern eine gute Lösung sein. (Foto: Shutterstock/GEW)

„Nein, Jonas, du sollst das zusammenfassen. Steht doch hier. So, wie du das gemacht hast, ist das falsch. Wie, du weißt nicht, wie das geht? Habt ihr das nicht in Deutsch gelernt?“ Ich betrachte die Aufgabe, die Jonas, nachdem er gegen 9 Uhr in aller Ruhe gefrühstückt und auf dem Handy gedaddelt hat, relativ lieblos und mit vielen Rechtschreibfehlern auf einem leicht zerknitterten Zettel geschrieben hat. Jonas betrachtet derweil bereits wieder die Oberfläche seines Handys. „Jonas, komm, wir machen das zusammen“, versuche ich, meinen Sohn zu einer Überarbeitung seiner Aufgabe zu bringen.

„Um mein Kind auf die richtige Spur zu bringen, formuliere ich flugs eine Einleitung...“

Jonas betrachtet weiterhin die Oberfläche seines Handys. „Jonas!“ Jonas hebt ein wenig unwirsch den Kopf und entgegnet entnervt: „Wieso, das hab ich doch fertig.“ Leider ist fertig nicht automatisch richtig. Unter Aufbringung aller Kräfte und viel Schokolade gelingt es mir, meinen Sohn an seinen Arbeitsplatz zu locken. „Also, Jonas, wie beginnt man denn eine Zusammenfassung?“ starte ich das Gemeinschaftsprojekt „Textzusammenfassung“. „Woher soll ich das denn wissen?“ grummelt mein Sohn und stopft sich als Belohnung für seinen Wortbeitrag gleich ein Stück Schokolade in den Mund. Um mein Kind auf die richtige Spur zu bringen, formuliere ich flugs eine Einleitung und tippe diese, das Kind ist schließlich mit Essen beschäftigt, auch rasch in den Rechner.

„Kannst du das für mich hochladen?“

„So, Jonas, jetzt du, was passiert denn nun in der Geschichte?“ möchte ich von meinem Sohn wissen. „Da fährt einer nach Berlin, dann trifft er seine Freunde und dann fangen sie einen Dieb.“ Ich höre immer nur „dann“, das kann man doch so nicht stehen lassen. Schnell baue ich zwei elegante Sätze mit abwechslungsreichen Anfängen und wo ich schon dabei bin, schreibe ich rasch noch den Schluss. „Kannst du das für mich hochladen?“ bittet mein Sohn und ist verschwunden, ehe ich ihm überhaupt „unser Gemeinschaftswerk“ noch einmal vorlesen kann.

„Privatsekretärin meines Sohnes“

Beschämt lade ich, seit dem erneuten Lockdown inklusive Schulschließung die derzeitige Privatsekretärin meines Sohnes, seine Aufgaben auf dem Padlet hoch. Von „seine“ kann allerdings nicht mehr die Rede sein, selbst „unsere“ trifft den Kern nicht. Beruhigend auf mein schlechtes Gewissen wirken die Zusammenfassungen der Mitschüler, die ich mir auf dem Padlet anschaue. Ich lese einige probehalber meinem Sohn vor. „Jonas, weißt du, was Einfühlungsvermögen ist?“ hake ich nach. „Ein- was?“ kommt prompt die Antwort. Ich wusste es: auf dem Padlet stehen zu mindestens fünfzig Prozent von Eltern überarbeitete oder gar allein verfasste Texte. Natürlich auch mit perfekter Zeichensetzung und ohne Rechtschreibfehler.

Nun muss ich zu meiner Schande etwas gestehen: ich bin Lehrerin. Und es kommt noch schlimmer: in meinem allerersten Artikel gab ich allen Eltern den Rat, die Finger von den Hausaufgaben ihrer Kinder zu lassen. Wie sollen die Lehrer sonst wissen, was ihre Schützlinge wirklich können? Und jetzt bin ich selbst keinen Deut besser. Was ist passiert, dass ich mich so habe gehen lassen?

„Neue Inhalte nicht komplett selbstständig erschließen“

Die Gründe sind vielfältig. Zum einen versteht mein Sohn die Aufgabenstellungen tatsächlich oft nicht. Vielleicht hat er vorher im Unterricht nur aus dem Fenster geschaut und deshalb keine Ahnung. Meine Erfahrung als Lehrerin aus dem Fernunterricht im Frühjahr ist aber, dass ein 5.-Klässler sich neue Inhalte einfach nicht komplett selbstständig erschließen kann. Auch Oberstufenschüler sind damit oft noch überfordert. Erklärvideos, Online-Übungen und gut aufgebaute Arbeitsblätter sind (zum Glück) kein vollwertiger Ersatz für den Unterricht vor Ort. Leuchtet mir komplett ein, ich kann Möbel auch nicht nur mit Video und Anleitung zusammenbauen, sondern brauche jemanden, der mir das zeigt. Hier. In echt. Mit sofortiger Fehlerkorrektur. Deshalb versuche ich so gut es geht, diesen Teil am heimischen Familienschreibtisch (ehemals Esstisch) zu übernehmen.

„Zu guter Letzt ist das gemeinsame Lösen der Schulaufgaben auch der Weg des geringsten Widerstands.“

Natürlich könnte ich meinen Sohn auch einfach machen lassen. Dann sehen die Lehrer wenigstens, was die Kinder wirklich und vor allem, was sie nicht verstanden haben. Ich lese noch einige weitere „Schülerbeiträge“ auf dem Padlet. Nein, doch keine Option. Verglichen mit den anderen Lösungen wäre die Lösung meines Sohnes zwar authentisch, aber leider nicht frei von Rechtschreibfehlern, dafür aber von Fremdwörtern und perfekten Formulierungen. Wie sieht das denn aus? Da ist die 5 im Zeugnis ja jetzt schon so gut wie sicher! Zu guter Letzt ist das gemeinsame Lösen der Schulaufgaben auch der Weg des geringsten Widerstands. Wenn ich Jonas die Aufgaben selbst machen lasse und am Ende des Tages bei der Nachkontrolle alle Fehler markiere, fliegen Radiergummis und Bücher durch die Gegend. Die Anzahl der Flugobjekte lässt sich bei uns zu Hause um mindestens die Hälfte reduzieren, wenn ich als Soforthilfe abrufbereit neben meinem Sohn sitze.

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

„Das böse Erwachen auf allen Seiten folgt spätestens bei der nächsten Klassenarbeit.“

Doch wie kann man das Problem lösen? Letztendlich ist ja niemandem mit solch übereifrigen Eltern gedient. Im schlimmsten Fall glauben die Lehrer tatsächlich, dass ihre Schüler zu Hause zu Einserkandidaten mutiert sind und schreiten, wenn endlich wieder Präsenzunterricht stattfinden darf, munter im Stoff voran. Das böse Erwachen auf allen Seiten folgt spätestens bei der nächsten Klassenarbeit...

Eigentlich ist es ganz einfach: indem man so gut es geht Unterricht macht. Wenn die Kinder nicht in die Schule dürfen, kommt die Schule eben zu den Kindern. Anders als im Frühjahr haben die meisten Schulen mittlerweile gute Videokonferenzsysteme. Die Eltern dürfen wieder Eltern sein und die Lehrer ihre Schüler sehen. Wenn auch nur über die Webcam. Aber Online-Konferenzen, in denen Unterricht gemacht wird, kommen der Realität zumindest näher als der zehnte Arbeitsauftrag in Folge, ohne jemals darüber mit der eigenen Lehrkraft gesprochen zu haben.

„Jede zweite Stunde unterrichte ich meine Schüler auf diese Weise online.“

Jede zweite Stunde unterrichte ich meine Schüler auf diese Weise online, erkläre mit Whiteboard und Präsentationen statt Tafelbild und Dokumentenkamera neuen Stoff und lasse sie in virtuellen Gruppenräumen arbeiten. In diese kann ich mich jederzeit einschalten und so direkt verfolgen, wie gut meine Schüler vorankommen. Hinterher vergleichen wir die Ergebnisse, klären Fragen und besprechen, was die Kinder in der folgenden Stunde allein bearbeiten sollen. Fast „wie in echt“.

Doch was ist mit den Eltern? Die können in der Zeit ihrem eigentlichen Job nachgehen. Mein Sohn jedenfalls fände es oberpeinlich, wenn ich in seine Konferenz platzen würde. Und falls ich doch unbedingt helfen möchte, bleiben mir ja noch all die Stunden, in denen mein Kind seine Aufgaben allein bearbeiten soll. Ach nein, ich glaube, ich unterrichte in der Zeit lieber meine Schüler online - falls doch mal ein Buch durch die Gegend fliegt, kann es mich wenigstens nicht treffen!