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Bundespräsident bringt integratives Schulsystem auf die Tagesordnung

Mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zeichnet Bundespräsident Horst Köhler heute Personen aus, die sich um das Bildungswesen verdient gemacht haben. Darunter ist auch Martina Buchschuster, Mutter eines behinderten Kindes, die sich seit Jahren für das gemeinsame Lernen behinderter und nicht behinderter Kinder stark macht.

Martina Buchschuster ist Rechtsanwältin, Mutter von vier Kindern. Eine Tochter hat eine autistische Behinderung. Frau Buchschuster gehört seit langem dem Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen“ Bayern an und vertritt diese in der gleichnamigen Bundesarbeitsgemeinschaft. Martina Buchschuster ist bekannt geworden durch ihren engagierten Kampf für das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern in der Regelschule. Als Rechtsanwältin kämpft sie vor allem auch mit juristischen Mitteln. Ihr Engagement gründet auf den Menschenrechten: dem Recht auf Bildung, auf informationeller Selbstbestimmung, auf Identität, auf Teilhabe und Selbstbestimmung, auf dem Recht eines jeden Kindes, Kind unter Kindern zu sein.

Mit der Auszeichnung von Martina Buchschuster bezieht der Bundespräsident erneut in einer schulpolitisch heiklen Frage Stellung. Denn die Aussonderung von Menschen mit Behinderungen in „Sonderschulen“, neuerdings „Förderschulen“ genannt, zählt nicht zu den Themen, die in der Öffentlichkeit engagiert diskutiert werden.

Bereits 2006 hatte der Bundespräsident in seiner Bildungsrede das Thema allgemein angesprochen. Damals sagte er:

„Mehr Teamwork macht es auch leichter, Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit ihren nichtbehinderten Altersgenossen zu unterrichten. Gleiches gilt für die Kindertagesstätten. Bei den Kindern mit Behinderung stärkt das Zusammensein in der Gruppe oder dem Klassenverband das Gefühl: 'Wir gehören dazu.' Und die anderen lernen auf diese Weise schon sehr früh, dass es normal ist, verschieden zu sein. Ich wünsche mir, möglichst viele Kinder könnten diese Erfahrung machen."

Rechte behinderter Menschen
Das neuerliche Bekenntnis des Bundespräsidenten zu einem inklusiven Schulsystem kann durchaus als Politikum gewertet werden. Im deutschen Bundestag steht nämlich die Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen an. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre der Regierung gar nicht bewusst, dass sie sich am 30. März 2007 vor den Vereinten Nationen mit ihrer Unterschrift dazu verpflichtet hat, sich in Deutschland für ein inklusives Schulsystem einzusetzen.

Die Konvention sagt nämlich unmissverständlich in Artikel 24 (Bildung), Absatz 1:
„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht behinderter Menschen auf Bildung. Um die Verwirklichung dieses Rechts ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu erreichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslange Fortbildung“

In den Absätzen 2 und 3 heißt es ebenso deutlich:
„Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher,
a) dass behinderte Menschen nicht auf Grund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass behinderte Kinder nicht auf Grund ihrer Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder von der Sekundarschulbildung ausgeschlossen werden;
b) dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Grundschulunterricht und einer entsprechenden Sekundarschulbildung haben“
(zitiert nach der deutschen Arbeitsübersetzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales; für „integrativ“ steht im englischen Original durchgehend „inclusive“)

Deutschland – Super-Integrationsland!?
In ihrer Eigenschaft als Präsidentschaft der EU und im europäischen Jahr der Chancengleichheit rief die Bundesregierung anlässlich der Unterzeichnung sogar alle Staaten auf, „dem Übereinkommen baldmöglichst beizutreten“. Und Franz Müntefering  (SPD), Vizekanzler und Bundesarbeitsminister verkündete am 11. Juni 2007 anlässlich der „Europäischen Konferenz zur Integration behinderter Menschen“ unter anderem das stolze Ziel, man wolle in Europa „im Bereich Barrierefreiheit die Nase vorne haben“. Deutschland – Super-Integrationsland!?

Alle diese bemerkenswerten Vorgänge fanden von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt statt. So unbemerkt, dass es Ende Juli im Bundesbildungsministerium laut TAZ auf Anfrage hieß, man kenne die Konvention gar nicht. Was erstaunlich ist, hat doch die Bundesregierung mit Datum vom 27. Juli 2007 ausführlich eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE beantwortet zur Situation von „Lernenden mit Behinderungen in Deutschland“.

Akribisch wird dort zum Beispiel dargelegt, dass von den im Schuljahr 2005/06 insgesamt geförderten 484 253 Schülerinnen und Schülern 14,1 Prozent oder 68 040 Integrationsschüler waren, die nicht in Förderschulen unterrichtet wurden. Dies ist ein leichter Anstieg gegenüber 2003. Damals lag die Quote bei knapp 13 Prozent. Für 2003 liegen die letzten differenzierten Angaben vor. Daraus ist erkennbar, dass die Unterschiede zwischen den Bundesländern - wie immer – beachtlich sind: Während in Bremen 49 Prozent in den Unterricht der Regelschule integriert sind, sind es in Sachsen-Anhalt nur drei Prozent. Seit 2000 stagniert der Anteil der Kinder im gemeinsamen Unterricht bei etwa 14 Prozent.

Entwicklungland
Dass Deutschland in puncto Schulwesen damit „international gesehen ein Entwicklungsland" ist, wie die Jura-Professorin Theresia Degener anlässlich der Unterzeichung der UN-Konvention im Deutschlandfunk bemerkte, scheint dem Bundesbildungsministerium also noch nicht bewusst zu sein. Zwar bekennt sich das Bundesbildungsministerium in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage fröhlich zu der „Auffassung, dass die Wünsche der Eltern ebenso wie die der Kinder und Jugendlichen Berücksichtigung finden müssen und die Schaffung eines möglichst hohen Anteils an integrativer Beschulung realisiert werden sollte“. Auch hält die Bundesregierung „eine gemeinsame Beschulung von behinderten und nicht behinderten Kindern für einen wichtigen Ansatz, um den diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung zu sichern.“ Aber über das Ausmaß der Aufgaben und Veränderungen, die schulpolitisch ins Haus stehen, wenn die UN-Konvention ernst genommen und umgesetzt würde, scheint im gesamten Regierungslager noch keine Klarheit zu bestehen.

Die Bundesregierung hat eine Konvention unterzeichnet, mit der sie sich zu einem integrativen bzw. inklusivem Bildungssystem verpflichtet. Wenn sie sich selbst ernst nimmt, heißt das in der Konsequenz: Aufhebung des Sonderschulwesens und des gegliederten allgemeinen Schulsystems, keine Selektion und Sortierung mehr, sondern "Eine Schule für alle".

Klippe Schulsystem
Die Bundesregierung hat auch ein Zusatzabkommenhttp://www.bmas.de/coremedia/generator/2888/property=pdf/uebereinkommen__ueber__die__rechte__behinderter__menschen.pdf unterzeichnet, in dem die Zuständigkeit des Ausschusses für die Rechte der Menschen mit Behinderungen anerkannt wird, Beschwerden wegen Verletzung des Übereinkommens durch die Unterzeichnerstaaten entgegen zu nehmen und in unterschiedlichen Formen aktiv zu werden. Fast hat man den Eindruck: Diese Bundesregierung hält Deutschland für ein durch und durch integrationsfreundliches Land, ist sich keiner Versäumnisse bewusst und könnte bass erstaunt sein, wenn Beschwerden aus Deutschland massenhaft eingehen.

Das Bundesbildungsministerium kannte im Juli 2007 – wie gesagt – die Konvention noch gar nicht. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat sich bisher immer als stramme Verfechterin des gegliederten selektiven Schulwesens gezeigt. Es könnte sein, dass sie unter „integrativer Beschulung“ die Integration Behinderter in ein selektives Schulsystem versteht. Was mit Si-cherheit in der UN-Konvention nicht gemeint ist und in der Realität Deutschlands spätestens in der Sekundarstufe für gut die Hälfte der Kinder, die integrativ in der Grundschule begonnen ha-ben, scheitert, ganz zu schweigen von der Integration aller Kinder ins allgemeine Schulsystem.
Vermutlich hat auch die Kultusministerkonferenz (KMK) die Konvention noch nicht zur Kenntnis genommen. Man darf also auf die weitere Entwicklung gespannt sein. Denn noch ist die Konvention durch den deutschen Bundestag nicht ratifiziert. Ein Datum für die Beratung steht noch nicht fest.

Aber kann – wer als europäische Ratspräsidentschaft andere Länder mit großer internationaler Geste zur Ratifizierung aufgefordert hat – noch einen Rückzieher machen? Oder wie schon bei der Kinderrechtskonvention einen Vorbehalt formulieren? Zuzutrauen ist den Liebhabern des selektiven Schulsystems so einiges, aber dies vielleicht doch nicht. Zu groß wäre die internationale Blamage. Vielmehr ist zu befürchten, dass mit irgendwelchen interpretatorischen Tricks versucht wird, die Klippe Schulsystem zu umschiffen. Die Bundesregierung wird auf die Zuständigkeit der Länder verweisen. Diese werden auf ihrer Zuständigkeit bestehen und dass man immer strebend bemüht sei.

Nationaler Aktionsplan
Dabei könnte sich der deutsche Bundestag durchaus auf die Koalitionsvereinbarung der großen Koalition berufen. Obwohl noch von der rot-grünen Vorgängerregierung verabschiedet, ist der "Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland. 2005-2010" mit allen seinen Zielen in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich bestätigt worden. Eines der Ziele des Aktionsplans lautet:
„Die Bundesregierung hat es deshalb zu ihren vordringlichen Zielen erhoben, das derzeit se-lektive Bildungssystem umzugestalten und stattdessen die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes zum Herzstück einer neuen Bildungspolitik zu erklären. Wir gefährden unsere Zukunft, wenn wir weiter zulassen, dass die soziale Herkunft eines Kindes in dem Maß wie bisher über seinen Bildungserfolg und damit über seine Chancen im Leben entscheidet. (...) Das erfordert ein Umdenken: Statt Kinder frühzeitig ein - und auszusortieren, brauchen wir mehr Vertrauen in die Bildungsfähigkeit eines jeden Kindes.“ (siehe auch GEW: Kinderrechte sollen ins Grundgesetzhttp://www.gew.de/Kinderrechte_sollen_ins_Grundgesetz.html)

Thema bleibt aktuell
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages jetzt davon überzeugt werden müssen, die Konvention zu ratifizieren und dass die Bundesregierung jetzt gefordert ist, einen vernünftigen Plan für die Umsetzung der Konvention vorzulegen. Dazu gehört auch, dass Franz Müntefering sagt, wie er im Bereich Barrierefreiheit bei den Schulen, Hochschulen und Kindergärten in Deutschland europaweit „die Nase vorn haben“ will, wo doch der Bund mit der Föderalismusreform gerade erst alle diesbezüglichen Steuerungsmittel aus der Hand gegeben hat. Annette Schavan muss gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz sagen, wie sie in Deutschland ein inklusives Bildungssystem hinbekommen will.

Als GEW werden wir jedenfalls nicht nachlassen, ein inklusives Schulsystem und "Eine Schule für alle" zu fordern. Eine Beschwerde beim Ausschuss für die Rechte der Menschen mit Behinderungen wegen Nichtvorhandensein eines inklusiven Bildungssystems und hartnäckiger Weigerung ein solches einzuführen ist zu prüfen. Auch die internationale Gemeinschaft wird Deutschland weiter beobachten. Sie wird wie der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, das deutsche Schulsystem selektiv nennen und interpretatorische Taschenspielertricks zurückweisen.

Auch Frau Buchschuster und der Bundespräsident werden wohl noch eine ganze Weile das Thema im Auge behalten und bearbeiten müssen.