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Beamtenstreikrecht: Warten auf Karlsruhe

Die GEW will das Streikrecht für Beamte erkämpfen und klagt gegen Disziplinarmaßnahmen gegen Beamtinnen und Beamte, die ihren Streikaufrufen gefolgt sind. Die ersten Verfahren liegen beim Bundesverfassungsgericht.

Foto: Uli Deck/dpa

Die GEW fordert gemeinsam mit dem DGB die vollen Koalitionsrechte – und damit das Streikrecht – auch für Beamtinnen und Beamte. Das ist Teil der gewerkschaftlichen Grundüberzeugungen. Die Gewerkschaften gehen – wie das Völkerrecht und das internationale Arbeitsrecht – davon aus, dass es ein Menschenrecht auf Kollektivverhandlungen zur fairen Aushandlung der Arbeitsbedingungen gibt. Seit vielen Jahren schon wird die Bundesrepublik von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wegen des "Beamtenstreikverbots" gerügt. Auch der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat bei seinem jüngsten Kongress 2015 zum wiederholten Mal dessen Abschaffung gefordert.

Teil dieses Menschenrechts auf Kollektivverhandlungen ist das Recht, auch den Arbeitskampf als letztes Mittel anzuwenden. Seit den 1970er Jahren hat es deshalb immer mal wieder Streikaufrufe der Bildungsgewerkschaft an Beamtinnen und Beamte gegeben, oft als "Warnstreik" für einige Unterrichtsstunden. Früher nahmen GEW-Mitglieder die wegen einer Teilnahme am Streik ausgesprochenen Disziplinarmaßnahmen - Verweise oder Rügen, die nach einigen Jahren aus der Personalakte entfernt wurden, oder niedrige Geldstrafen - einfach hin. Eine Klage vor einem deutschen Gericht hätte keine Erfolgsaussichten gehabt, zu fest gefügt war die herrschende juristische Meinung.

Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Auslöser waren mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei. Der EGMR machte darin deutlich, dass das Streikrecht und das Recht auf kollektive Vereinbarung der Arbeitsbedingungen Menschenrechte seien, die den Beschäftigten nicht einfach mit Verweis auf einen "Beamtenstatus" abgesprochen werden dürfen. Einschränkungen des Streikrechts seien im internationalen Recht nur zulässig auf gesetzlicher Grundlage und ausschließlich dort, wo die Beschäftigten im engen Sinne hoheitlich tätig sind (Polizei, Justizvollzug und Streitkräfte) - dort wiederum unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses.

Wie kam es zum Beamtenstreikprozess?

Die Urteile des EGMR sind grundsätzlich auch in der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen. Dass Lehrkräfte nicht hoheitlich tätig sind, ist heute weitgehend unstrittig. Vor diesem Hintergrund konnte die GEW eine rechtliche Auseinandersetzung wagen. Allein in den Jahren 2009 bis 2015 sind rund 10 000 verbeamtete Lehrkräfte in verschiedenen Bundesländern Streikaufrufen der GEW gefolgt. Viele GEW-Mitglieder haben sich gegen Disziplinarmaßnahmen, die gegen sie verhängt wurden, zur Wehr gesetzt. Mehrere Verfahren aus den Jahren 2009 und 2010 gehen seitdem durch die Instanzen.

Zunächst gab es drei Verwaltungsgerichtsurteile, in denen die Richter ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen zogen: Das Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf urteilte, die Streikteilnahme sei zwar nach deutschem Recht nicht zulässig, dürfe aber wegen der EGMR-Rechtsprechung nicht bestraft werden. Das VG Osnabrück sah den Widerspruch zwischen deutschem und internationalem Recht, hielt sich aber nicht für befugt, eigenmächtig die höchstrichterliche deutsche Rechtsprechung zu ändern. Das VG Kassel entschied, dass der Streik eines verbeamteten Lehrers zulässig gewesen sei, da die EGMR-Rechtsprechung eine entsprechende Fortentwicklung der hergebrachten Grundsätze des Beamtentums in Deutschland gebietet.

Das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster wies das Düsseldorfer Urteil zurück und argumentierte ganz traditionell: Das Beamtenstreikverbot sei so sehr gefestigte Rechtsprechung, dass man nicht mal eine Revision zulassen müsse. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig machte es sich nicht so einfach: Es gab der Nichtzulassungsbeschwerde der GEW recht und entschied im Februar 2014 in der Hauptsache. Erstmalig stellte ein oberstes Gericht fest, dass es einen offensichtlichen Widerspruch zwischen dem für Deutschland bindenden internationalen Recht (EMRK) und dem nationalen Verfassungsrecht gebe. Es argumentierte aber, diesen Widerspruch könne nur der Gesetzgeber auflösen. Bis dahin gelte das Beamtenstreikverbot fort. Die Bundesregierung wiederum, als sie sich Anfang 2015 erneut wegen des Beamtenstreikverbots vor der ILO rechtfertigen musste, zog sich darauf zurück, sie wolle dem Bundesverfassungsgericht nicht vorgreifen.

Nun liegen ein Fall aus Nordrhein-Westfalen und zwei aus Niedersachsen dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. Ende September 2015 hatte das BVerfG - neben anderen Verbänden und Sachverständigen - die GEW, den DGB und ver.di zu einer Stellungnahme eingeladen. Diese sollte sich auch "zu den Möglichkeiten verhalten, eine vermeintliche Kollisionslage" zwischen Grundgesetz und EMRK aufzulösen, "etwa durch eine Erweiterung der Beteiligungsrechte der Gewerkschaften". GEW, DGB und ver.di entschieden sich für eine gemeinsame schriftliche Stellungnahme, die sie Anfang 2016 in Karlsruhe eingereicht haben. Seitdem warten alle auf einen Termin.

Was wollen die Gewerkschaften?

In ihrem Papier machen die Gewerkschaften zunächst deutlich, dass nicht der Gesetzgeber die Kollisionslage auflösen müsse. Das Bundesverfassungsgericht sei befugt und verpflichtet, die Widerspruchsfreiheit zwischen nationalem und Völkerrecht herzustellen. Auch das Arbeitskampfrecht der Tarifbeschäftigten sei schließlich Richterrecht. Die von den Gerichten entwickelten Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeit von Streiks seien unabhängig vom Status der Streikenden gültig.

Vorschläge, die Beteiligungsrechte der Gewerkschaften zu erweitern, die beim Letztentscheidungsrecht der Dienstherren, der Exekutive oder des Parlaments enden, lösten das Problem nicht. Damit würde das "kollektive Betteln" nur auf eine höhere Stufe gehoben. Die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass der EGMR den richtigen Weg aufgezeigt habe: Das Recht auf Kollektivverhandlungen und ggf. kollektive Kampfmaßnahmen - bei einem eng gefassten Streikverbot für Beamte mit rein hoheitlichen Aufgaben - sei die Erweiterung der Beteiligungsrechte, die das Kollisionsproblem löst.

Das Beamtenrecht, so die Gewerkschaften, müsse nach Artikel 33 Absatz 5 Grundgesetz weiterentwickelt werden, dabei seien die so genannten "hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" zu berücksichtigen. Bei diesen handelt es sich teils um bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Traditionen, die nie von einem Parlament beschlossen, sondern nur von Richtern und Rechtsgelehrten weiterentwickelt wurden. Sie ranken sich häufig um altmodisch anmutende Begriffe wie "besondere Treuepflicht" (früher gegenüber Kaiser und Führer, heute gegenüber dem Rechtsstaat) oder "amtsangemessene Alimentation". Dahinter verbirgt sich die Fiktion, dass Beamtinnen und Beamte nicht für eine bestimmte Leistung, die sie zu erbringen haben, bezahlt, sondern zu Monatsanfang der Würde ihres Amtes entsprechend ausreichend alimentiert werden, um sich unabhängig und frei von Existenzsorgen ganz der Amtsführung hingeben zu können. Aus der Verbindung dieser beiden Grundsätze wird von konservativen Juristen bis heute das Streikverbot abgeleitet: Wer verbeamtet ist, darf und muss nicht streiken.

Nach Auffassung von GEW, DGB und ver.di ist diese Ableitung nicht zwingend. Das Beamtenrecht kann und sollte reformiert, die Treuepflicht neu interpretiert werden. Dadurch wird das Berufsbeamtentum als Institution nicht aufgegeben: An den Anforderungen mit Blick auf Loyalität, den vollen beruflichen Einsatz und die Wahrnehmung der Amtspflichten ohne Ansehen der Person ändert sich nichts.

Was bringt das alles?

Gegner werfen der GEW vor, sie würde mit den Beamtenstreikprozessen den Beamtenstatus gefährden. So lassen sich leicht Ängste schüren, denn trotz der Einschränkung der Verhandlungsrechte ist der Beamtenstatus bei vielen Menschen beliebt: Die verbeamteten Beschäftigten zahlen keine Sozialabgaben, sind überwiegend privat krankenversichert und genießen Arbeitsplatz- und Versorgungssicherheit - auch wenn viele Jahre Kürzungspolitik ihre Spuren hinterlassen haben.

Der Vorwurf zeugt zunächst von einem etwas seltsamen Demokratieverständnis. In vielen europäischen Ländern gibt es im öffentlichen Dienst besondere Beschäftigungsverhältnisse, die denen des deutschen Beamtenstatus ähnlich sind. Der Staat wie auch die Gesellschaft haben ein großes Interesse an qualifiziertem Personal und kontinuierlicher, zuverlässiger Erfüllung staatlicher Aufgaben. Das gewährleistet der Staat fast überall weniger durch Spitzengehälter als durch eine bessere soziale Absicherung als in anderen Branchen. Doch kein anderer demokratischer Staat kommt auf die Idee, deshalb die Grundrechte eines Teils seiner Beschäftigten außer Kraft zu setzen.

In der Realität wird das "besondere gegenseitige Dienst- und Treueverhältnis" seit Jahren durch die öffentlichen Arbeitgeber ausgehöhlt. Beamte arbeiten in börsennotierten Unternehmen, hoheitliche Aufgaben werden von privaten Sicherheitsfirmen erledigt, in Verwaltungen und Schulen machen angestellte und verbeamtete Kolleginnen und Kollegen nebeneinander die gleiche Arbeit. Für die Arbeitgeber ist die Spaltung der Belegschaft in Beamte (die nicht streiken dürfen) und Arbeitnehmer (die sich wegen Befristung oft nicht trauen zu streiken) höchst bequem: Sie schürt Missgunst zwischen den Beschäftigtengruppen und schwächt die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften.

Für den Arbeitgeber, den "Dienstherrn", hat der Beamtenstatus viele Vorteile: Er kann qualifiziertes Personal binden, über Bezahlung und Arbeitszeit allein entscheiden und entzieht sich den Kosten der Sozialversicherung. Am Ende entscheidet deshalb immer das Finanzministerium, ob verbeamtet wird oder nicht. Wenn Lehrkräfte knapp sind, werden sie mit Verbeamtung gelockt. Wenn es mal wieder zu viele Lehrkräfte geben sollte, wird man sich - Streikrecht hin oder her - wieder verstärkt der Vorteile des "hire and fire" befristet beschäftigter Angestellter erinnern. Im Übrigen hat gerade die GEW in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sie mit dem Instrument des Streiks verantwortungsvoll umgeht.

Am Ende macht ein Blick in die Geschichte deutlich: Grundlegende Verbesserungen der Arbeitnehmerrechte wurden selten vor Gericht erkämpft. Entscheidend waren immer die Auseinandersetzungen auf der Straße. Je mehr Beamtinnen und Beamte bereit sind, sich aktiv gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren, desto weniger kann die Politik ihnen ihre Rechte vorenthalten. Hierüber zu diskutieren, ist jetzt Aufgabe der GEW-Mitglieder auf allen Ebenen.