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Baden-Württemberg: Warten auf den großen Plan

In der E&W-Länderserie Inklusion schauen wir in der Januar-Ausgabe der E&W nach Baden-Württemberg. Im Ländle wird Inklusion zwar als wichtig erachtet, doch die Schulen fühlen sich mit der Einführung allein gelassen: Der gesetzliche Rahmen, Ressourcen und Unterstützung fehlen. Ob das neue Schulgesetz, das zum Schuljahr 2015/2016 in Kraft tritt, Abhilfe schafft, ist fraglich.

Wer in Baden-Württemberg nach dem Stand der Inklusion fragt, bekommt völlig unterschiedliche Antworten zu hören. Das Land steckt seit Jahren in einer Übergangsphase. Es gibt keine gesetzlichen Rahmenbedingungen, keine Modelle und Vorgaben, nach denen sich die Schulen richten können. Die angebotenen Fortbildungen und Lehrgänge zum Thema kompensieren den fehlenden gesetzlichen Rahmen nicht. So sind die Schulen auf sich allein gestellt: Sie können kein inklusives Bildungsangebot machen, lassen es notgedrungen stiefmütterlich am Rande mitlaufen oder haben mit individuellen Konzepten und viel persönlichem Engagement einen gangbaren Weg gefunden, wie sie Inklusion im Schulalltag realisieren können.

Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurden 2010/2011 fünf Modellregionen eingerichtet, die seitdem Erfahrungen mit Inklusion sammeln (s. Infokasten). Diese sollen in das neue Schulgesetz einfließen, das zum Schuljahr 2015/2016 in Kraft tritt. Neben Mannheim, Freiburg, Konstanz und Biberach nimmt auch Stuttgart an dem Schulversuch „Schulische Bildung von jungen Menschen mit Behinderung“ teil, so zum Beispiel die Carl-Benz-Schule in der Landeshauptstadt. An der Ganztagsgrundschule unterrichten und betreuen 24 Lehrerinnen und Lehrer, drei Sonderpädagogen und 16 pädagogische Fachkräfte rund dreihundert Schüler und Schülerinnen. 15 von ihnen haben sonderpädagogischen Bildungsanspruch im Bereich Lernen. „Ein Problem ist derzeit, dass Kinder mit sonderpädagogischem Bildungsanspruch nicht zum Klassenteiler zählen, was eine zusätzliche Belastung der Kolleginnen und Kollegen ist“, berichtet Schulleiterin Ingrid Vanek.

Vor zwei Jahren beschlossen Vanek und ihr Team, das individuelle Lernen als Antwort auf die hohe Leistungsheterogenität einzuführen. „Die Leistungsunterschiede fallen dadurch im Unterricht nicht mehr so auf, die Kluft zwischen den Kindern wird kleiner“, erklärt Vanek, die die Schule seit viereinhalb Jahren leitet. Genug Schwierigkeiten gibt es trotzdem, wie Florian Fierke, Klassenlehrer der 1A und maßgeblich an der Einführung des individuellen Lernmodells beteiligt, weiß: „Inklusion ist gut, aber es muss noch vieles besser laufen. Wir brauchen unbedingt mehr Ressourcen und finanzielle Unterstützung.“ Viele Lernmaterialien für seine Klasse hat Fierke aus eigener Tasche bezahlt.

Ressourcen fehlen

So wie sich die gesamte Lehrerschaft der Carl-Benz-Schule einstimmig für die Inklusion an ihrer Schule entschieden hat, befürwortet ein Großteil der Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg die Umsetzung der Inklusion grundsätzlich. Das zeigte eine Ende 2013 von der GEW Baden-Württemberg initiierte Online-Umfrage, an der dreitausend Lehrkräfte teilnahmen. Sie machte aber auch deutlich, dass die Lehrkräfte der Inklusion mit Sorge entgegenblicken, da der Rahmen und die notwendigen Ressourcen fehlen. Dass die Umsetzung der Inklusion ein langfristiger Prozess ist, ist allen Beteiligten bewusst. Die GEW in Baden-Württemberg fordert deshalb Überbrückungsregelungen, Zwischenschritte sowie personelle und sächliche Mittel, um diese Entwicklung positiv zu beeinflussen. Zum Start des Schuljahrs 2014/2015 hat das Kultusministerium 200 Deputate zur Unterstützung inklusiver Bildungsangebote geschaffen, um die Rahmenbedingungen zu verbessern und die Schulgesetzänderung vorzubereiten. „Die Landesregierung muss die Stellen für den gemeinsamen Unterricht dauerhaft finanzieren. Nur so kann Akzeptanz für inklusive Bildungsangebote bei allen Beteiligten geschaffen werden“, betont Doro Moritz, Vorsitzende der GEW Baden-Württemberg. Auf Nachfrage, wie viele Lehrerstellen neu geschaffen werden, gibt das Kultusministerium derzeit keine Auskunft.

Was bringt das neue Schulgesetz? Dafür hat das Kultusministerium eine Reihe von Eckpunkten aufgestellt. Demnach soll das Wahlrecht der Eltern gestärkt werden. Sie sollen nach einer Beratung entscheiden können, ob ihr Kind künftig an einer allgemeinen Schule oder an einer Sonderschule lernt. Das Staatliche Schulamt wird den Eltern in der Bildungswegekonferenz einen Vorschlag für ein inklusives Bildungsangebot an einer allgemeinen Schule unterbreiten, wobei der Elternwille bei der Planung inklusiver Bildungsangebote handlungsleitend ist.

Insbesondere bei der zieldifferenten Inklusion wird das Zwei-Pädagogen-Prinzip – ein Lehrer der allgemeinen Schule und ein Sonderschullehrer – angestrebt. Inklusive Bildungsangebote sollen im zieldifferenten Unterricht möglichst gruppenbezogen angelegt sein. Diese Lösung ist zum einen ressourcenschonender, zum anderen zeigt die Erfahrung, dass es von Vorteil ist, wenn Kinder mit Behinderungen nicht allein, sondern in der Gruppe unterrichtet werden.
Die Frage, ob Sonderschulen erhalten bleiben, wird klar mit „Ja“ beantwortet. Diese sollen zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ausgebaut werden, die die allgemeinen Schulen unterstützen.

Umstritten ist die vorgesehene Verortung der Lehrkräfte der Sonderschulen, die, wenn sie mit mehr als der Hälfte des Deputats an einer allgemeinen Schule arbeiten, dorthin versetzt werden sollen. Gegen diese als Zwangsversetzung empfundene Maßnahme wehren sich viele Lehrerinnen und Lehrer.

Eins der größten Probleme, nämlich, dass Kinder mit Behinderungen beim Klassenteiler nicht mitgerechnet werden, soll mit dem neuen Schulgesetz gelöst werden. Schülerinnen und Schüler mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot sollen bei der Klassenbildung der allgemeinen Schulen berücksichtigt werden. Für die GEW Baden-Württemberg, die sich stark für die neue Regelung eingesetzt hat, ist das wie für Ingrid Vanek ein Erfolg.