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Berufliche Bildung

Ausbildungsparadies?

Trotz Fachkräftemangels reduzierten Unternehmen 2019 ihr Ausbildungsplatzangebot. 73.600 junge Menschen fanden keine Lehrstelle. Mehr als 1,5 Millionen Erwachsene zwischen 25 und 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss.

Bundesweit sind viele Lehrstellen nicht besetzt sind - oft im Lebensmittel-, Friseur- oder Hotel- und Gaststättengewerbe. (Foto: mauritius images/Prostock-studio/Alamy)

Diese Fakten und Daten passen ganz und gar nicht in das von Wirtschaftsverbänden und Bundesregierung so gern gezeichnete Bild eines erfolgreichen deutschen Berufsbildungssystems. Laut Analyse des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) ging die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Vergleich zum Vorjahr um 6.300 zurück – auf 525.100. Erstmals seit 2014 reduzierten Unternehmen und Verwaltungen wieder ihr betriebliches Ausbildungsangebot, und zwar um 10.300 auf 563.800 Plätze.

24.400 Jugendliche gingen 2019 bei ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz leer aus. Sie werden in der Statistik unter der Rubrik „ohne Alternative“ geführt. Weitere 49.200 Bewerberinnen und Bewerber fanden zwar Alternativen, etwa eine Arbeitsstelle, weiteren Schulbesuch oder Aufnahme eines Studiums. Gegenüber den Arbeitsagenturen hielten sie jedoch ihren Vermittlungswunsch in eine betriebliche Ausbildung aufrecht. Diese 73.600 ausbildungsbereiten, aber nicht in Betriebe zu vermittelnden jungen Menschen unterschlägt Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) in ihrer Pressemitteilung von Ende 2019. Dabei verfügen knapp zwei Drittel (64,3 Prozent) dieser 73.600 erfolglosen Bewerberinnen und Bewerber über einen mittleren Schulabschluss oder eine Studienberechtigung.

„Niedriglohn und mangelnde Tarifbindung schaden unserer dualen Ausbildung.“ (Elke Hannack)

Wirtschaftsverbände wie auch diverse Medien rücken dagegen gern die 53.100 noch nicht besetzten Lehrstellen in den Vordergrund ihrer Bilanzberichterstattung. Mit Blick auf den erheblichen Lehrstellenmangel früherer Jahre wird quasi das Bild eines Ausbildungsparadieses gezeichnet, bei dem die Meister händeringend Nachwuchs suchen und die Bewerber einfach nur zugreifen müssten. Doch vielfach handelt sich dabei um freie Stellen im Lebensmittelhandwerk, bei Friseurgeschäften oder im Hotel- und Gaststättengewerbe. Aber auch hier sank die Zahl der unbesetzten Stellen gegenüber dem Vorjahr um 4.500.

Nach Analyse der Universität Göttingen auf Basis der Vorjahre gibt es in der Regel für knapp die Hälfte dieser freien Plätze zwar interessierte Jugendliche. Es kommt aber dennoch nicht zum Vertragsabschluss – entweder, weil der Betrieb den Bewerber nicht für geeignet hält, oder die jungen Menschen dort die Ausbildung, Arbeit und Bezahlung nicht für attraktiv halten. „Niedriglohn und mangelnde Tarifbindung schaden unserer dualen Ausbildung“, kritisiert die Vizevorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Elke Hannack.

Überangebot sollte normal sein

Dabei sollte ein Überangebot an freien Ausbildungsstellen normal sein, um die von der Verfassung garantierte freie Wahl von „Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte“ (Artikel 12 Grundgesetz) zu gewährleisten. Das Bundesverfassungsgericht sprach in seinem Urteil zur Beruflichen Bildung Anfang der 1980er-Jahre sogar davon, dass eine Quote von 100 Bewerbern zu 112,5 freien Plätzen nötig sei, um jungen Menschen eine echte Berufsauswahl zu ermöglichen. Doch diese Quote wurde seit 1977, dem ersten Erscheinen des jährlichen Berufsbildungsberichtes, nur ein einziges Mal erreicht, nämlich 1992. Im vergangenen Jahr kamen auf 100 Bewerberinnen und Bewerber lediglich 96,6 Plätze.

Zum bundesweit zu geringen Stellenangebot kommen häufig regionale Mobilitätsprobleme hinzu. Arbeitsagenturbezirke mit einem Überhang an Stellen bei viel zu geringen Bewerberzahlen finden sich überwiegend im Süden der Republik, vor allem in Bayern, zum Teil aber auch in Sachsen und Thüringen. Im Osten ist dies vor allem Folge des dortigen Geburtenrückgangs in den 1990er-Jahren. Für Hauptschülerinnen und -schüler ist die Situation besonders prekär. Mehr als jeder Zweite (53 Prozent) ist mangels Ausbildungsplatz unmittelbar nach Verlassen der Schule 2017 zunächst in Maßnahmen des Übergangssektors vermittelt worden. Neuere Daten liegen noch nicht vor. Hauptschülerinnen und -schüler sind heute im Schnitt 19 Jahre alt, bevor sie erstmals erfolgreich einen Lehrvertrag abschließen. Wegen gestiegener Qualifikationsansprüche der Wirtschaft bleibt ihnen so gut wie jeder zweite betriebliche Ausbildungsplatz verschlossen.

„Hohe Abbrecherquoten in einzelnen Branchen wie auch der regelmäßige DGB-Ausbildungsreport deuten darauf hin, dass bei der Ausbildung in den Betrieben einiges im Argen liegt.“ (Ansgar Klinger)

„Für Hauptschüler wie auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund erweist sich das duale System inzwischen als hoch selektiv“, kritisiert Ansgar Klinger, im GEW-Vorstand für Berufsbildung verantwortlich. Die GEW macht sich deshalb für eine gesetzliche Ausbildungsgarantie stark – ähnlich wie es sie im Nachbarland Österreich gibt. Trotz der Warnungen der Arbeitgeber vor einem zunehmenden Fachkräftemangel hätten sie die gute konjunkturelle Lage der vergangenen Jahre nicht genutzt, „um ein deutliches Plus an Ausbildungsplätzen“ zu schaffen. „Wir brauchen zudem eine Ausbildungsplatzumlage, um ausbildungswilligen Unternehmen die Ausbildung zu erleichtern.“ Klinger verweist darauf, dass nur knapp ein Fünftel aller Betriebe heute noch selbst ausbilde. Wer aber hier allein auf die Kräfte des Marktes setze, werde seiner Verantwortung gegenüber der nachwachsenden Generation nicht gerecht.

Klinger fordert Bund und Länder, die Unternehmensverbände, Gewerkschaften und die Bundesagentur für Arbeit auf, in ihrer „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ in dieser Frage bald Fortschritte zu erzielen. Zudem gelte es, die Qualität der Ausbildung zu verbessern. „Hohe Abbrecherquoten in einzelnen Branchen wie auch der regelmäßige DGB-Ausbildungsreport deuten darauf hin, dass bei der Ausbildung in den Betrieben einiges im Argen liegt.“