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Coronapandemie - eine Zwischenbilanz

Augen zu und durch

Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern müssen in der Pandemie improvisieren. Wie sieht das an Schulen aus, deren Schülerinnen und Schüler aus materiell benachteiligten Familien stammen? Zwei Lehrkräfte aus Berlin berichten.

Franziska Böhmer wird jetzt zweimal pro Woche an ihrer Schule in Berlin getestet. Die Schnelltests bringen aber nur punktuell Sicherheit, sagt die Lehrerin. (Foto: Kay Herschelmann)

„Die Kinder haben den Lockdown gut überstanden“, sagt Franziska Böhmer, die Mathe, Kunst und Sport in einer sogenannten JüL-Klasse (jahrgangsübergreifendes Lernen) an der Hans-Fallada-Schule in Berlin-Neukölln von der 1. bis 3. Jahrgangsstufe unterrichtet. Bereits den ersten Lockdown im vergangenen Jahr habe man organisatorisch gut hinbekommen. Auch der zweite Lockdown sei gut vorbereitet gewesen. „Ich habe jedes Kind mindestens einmal in der Woche in der Schule gesehen, wenn es gekommen ist, um sich neue Aufgaben abzuholen beziehungsweise erledigte Aufgaben abzugeben. So konnte ich auch Einzelgespräche führen und mit den Eltern sprechen.“

Distanzlernen funktionierte

Auch das Distanzlernen habe gut funktioniert. „Ich war wirklich erstaunt, wie gut die Kinder mit der Technik zurechtkamen. Die Kinder hatten richtig Lust aufs Lernen. Die waren sehr motiviert.“ Die Dritt- und Zweitklässler hatten dreimal die Woche, die Erstklässler zweimal die Woche Online-Unterricht. „Wir haben sogar eine Online-Faschingsparty gefeiert. Die Kinder waren pünktlich und zuverlässig und wurden von den Eltern unterstützt.“ Und das, obwohl die digitale Ausstattung in den Haushalten meist alles andere als komfortabel sei, wie Böhmer betont.

In Berlin wurden gut 50.000 Tablets an bedürftige Schülerinnen und Schüler ausgegeben. Damit konnte die größte Not gelindert werden. Durch das bürokratische Vergabeverfahren seien allerdings viele Kinder und Jugendliche, die auf die Geräte angewiesen sind, leer ausgegangen, kritisiert der Co-Vorsitzende der Berliner GEW, Tom Erdmann.

„Manche Eltern haben sich ein Tablet oder einen Laptop selbst gekauft, in den meisten Familien wurde jedoch ein Mobiltelefon genutzt.“  (Franziska Böhmer)

Ihre Schule habe zwar vor einigen Monaten iPads bestellt, erhalten habe sie die digitalen Endgeräte jedoch erst im Februar dieses Jahres, beschreibt Böhmer die Situation an ihrer Schule. Es habe Lieferverzögerungen gegeben und es fehlten immer noch Hüllen und Ladekoffer, ohne die die iPads nicht herausgegeben werden dürften. Die Geräte seien also auch Ende Februar noch nicht einsatzbereit gewesen. „Manche Eltern haben sich ein Tablet oder einen Laptop selbst gekauft, in den meisten Familien wurde jedoch ein Mobiltelefon genutzt.“

Logistische Herausforderung

Die Hans-Fallada-Schule ist eine inklusive Schule im Norden des Bezirks Neukölln, der durch eine hohe Zahl an Empfängern von Transferleistungen charakterisiert ist. Der Anteil der Einwohner, die ALG II beziehen, liegt bei rund einem Drittel. Zum Vergleich: Berlinweit bezieht rund jeder Zehnte ALG II. Viele Schülerinnen und Schüler der Grundschule leben in Familien mit vier und mehr Kindern, über digitale Endgeräte verfügen nur wenige. „In einigen Familien gibt es nur ein Smartphone.“ Die Lehrkräfte nahmen, so Böhmer, darauf Rücksicht und organisierten den Unterricht vor Laptop, iPad und Smartphone zeitlich so, dass jedes Kind teilnehmen konnte. Die Stimmung unter allen Eltern beschreibt Böhmer als vergleichsweise entspannt. „Sie sind aber zunehmend erschöpft und kommen an ihre Grenzen. Das Verhältnis zu uns Lehrkräften hat sich im Lockdown positiv entwickelt; die Bindung ist enger geworden. Wir bekommen sehr viel Wertschätzung von den Eltern entgegengebracht.“

Ende Februar begann für die Grundschülerinnen und -schüler in Berlin wieder der Präsenzunterricht. Die Schule von Böhmer hat einen Wechselunterricht mit halben Klassen konzipiert; jede Gruppe kommt täglich für zwei Zeitstunden in die Schule. Mit dem Konzept des gestaffelten, täglichen Unterrichts hat die Schule bereits in der Öffnungsphase von August bis kurz vor den Weihnachtsferien gute Erfahrungen gesammelt. „Uns war wichtig, dass die Kinder jeden Tag zur Schule kommen. Eine andere Organisation des Unterrichts, zum Beispiel ein Wechselunterricht, bei dem die Schülerinnen und Schüler nur an einigen Tagen in der Woche oder wochenweise in die Schule kommen, überfordert die meist kinderreichen Familien organisatorisch.“ Allerdings müssen jetzt alle Grundschulkinder jeden Tag zur Schule kommen. „Um das gute Hygienekonzept aufrechtzuerhalten“, so Böhmer, „ist das eine größere logistische und organisatorische Herausforderung als im Mai 2020.“

„Wir haben zwar alle FFP2-Masken, aber wir sehen auch, dass die Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckungen nach wie vor unzureichend sind.“

Und wie steht sie zur Öffnung der Grundschulen mitten in der Pandemie? „Inhaltlich finde ich das richtig, für die Kinder war dieser Schritt notwendig, aber die Kolleginnen und Kollegen sorgen sich schon“, antwortet Böhmer. „Einige von uns gehören zur Covid-19-Risikogruppe. Wir haben zwar alle FFP2-Masken, aber wir sehen auch, dass die Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckungen nach wie vor unzureichend sind. Die zwei Schnelltests pro Woche bringen nur eine punktuelle Sicherheit.“ Die Stimmung im Kollegium bis zur Impfung aller Lehrkräfte fasst die Lehrerin so zusammen: „Augen zu und durch!“

Erdmann fordert angesichts solcher Berichte, Lehrerinnen und Lehrer schneller zu impfen: „Es darf nicht sein, dass die Liste der Impfeinladungen durch ein halbes Dutzend Verwaltungseinheiten gehen muss, nur um zu verhindern, dass irgendjemand geimpft wird, der noch nicht an der Reihe ist. Thüringen und Brandenburg zeigen, dass es auch unbürokratisch geht, denn dort stellen Kita- und Schulleitungen die Impfberechtigungen an die Beschäftigten aus.“

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

Unfreiwillige Fortbildung

Ortswechsel: Marvin K. (Name geändert) unterrichtet an einem Gymnasium im Südwesten von Berlin Deutsch und Musik für die Jahrgangsstufen 7 bis 12; auch hier stammen viele Schülerinnen und Schüler aus materiell benachteiligten Familien. Kurz nach den Sommerferien und dem Wiederbeginn des Präsenzunterrichts sei die Angst vor Ansteckungen mit dem Corona-Virus bei vielen Kolleginnen und Kollegen schon spürbar gewesen. „Inzwischen, so mein Eindruck, fällt vielen zu Hause die Decke auf den Kopf, und sie wollen zurück in die Schule. Mir geht es ähnlich. Ich sitze jeden Tag von morgens bis spät abends vor dem Computer, das geht mir zunehmend auf die Nerven.“

Auch im Lockdown habe man auf Distanzunterricht nicht vollständig verzichtet. Nur die älteren Schülerinnen und Schüler, die sich auf die Abschlussprüfungen vorbereiteten, mussten zum Präsenzunterricht erscheinen. Bei den jüngeren habe das Distanzlernen „im Großen und Ganzen gut funktioniert“. Für ihn sei der Online-Unterricht eine unfreiwillige Fortbildung, berichtet K. „Ich habe im vergangenen Jahr mindestens doppelt so viel gelernt wie während meines Referendariats. Gerade in Musik und Deutsch kann man mit Online-Tools unglaublich viel machen.“

„In der Pandemie ist der Kontakt zu meinen Schülerinnen und Schülern noch intensiver und das Verhältnis besser geworden.“ (Marvin K.)

Sorgen bereitet K. allerdings, „dass einige Schülerinnen und Schüler während des Lockdowns komplett vom Radar verschwunden sind und auch zu deren Eltern kein Kontakt möglich ist.“ Im Präsenzunterricht sei wenigstens ein Gespräch zwischen Tür und Angel möglich und auch die Schulsozialarbeiterin könne intervenieren. Der Lockdown schränke diese Möglichkeit ein. „Ein Schüler, der schon seit Wochen nicht mehr am Online-Unterricht teilnimmt, wächst bei einer alleinerziehenden Mutter auf, die kein Wort Deutsch spricht; da gestaltet sich schon die Kontaktaufnahme zur Mutter schwierig.“

Die meisten Jugendlichen hätten die Zeit zwischen Weihnachten und Ende Februar allerdings gut überstanden, betont K. „Sie mussten zwangsläufig selbstständiger werden.“ Während in vielen Mittelschichtsfamilien die Eltern bei den Aufgaben helfen können, seien seine Schülerinnen und Schüler auf sich alleine gestellt. Wie Böhmer sagt aber auch er: „In der Pandemie ist der Kontakt zu meinen Schülerinnen und Schülern noch intensiver und das Verhältnis besser geworden.“