Interlagos, vielen durch die Formel-1-Rennstrecke ein Begriff, ist ein beschauliches Viertel im südlichen Teil São Paulos. Das gleichzeitige Leben und Arbeiten in diesem Stadtteil bietet für eine Familie viele Vorteile - insbesondere den, sich viel Lebenszeit zu ersparen, indem man sich von dem täglichen Verkehrszirkus dieser immer pulsierenden Metropole unabhängig macht.
Vorüberlegungen und Entscheidungen
Für unsere Vorüberlegungen – von Planungen kann kaum die Rede sein – blieben uns in der Gänze gut zwei Monate Zeit: Im Mai 2010 konnten wir dem Colégio Humboldt meinen Arbeitsbeginn zum 1. August 2010 bestätigen und das Rotieren begann in aller Konkretion: zwei Kinder im Alter von 17 und 2 Jahren, keine Arbeitserlaubnis für den mitreisenden Ehepartner in Brasilien, Haus in Deutschland, alter Kater, Auto, Sprachunterricht, Versicherungen und so weiter und so fort. Es ging bis hin zu der Frage, ob nun mit oder, wie empfohlen, ohne Container. Letztendlich entschieden wir uns im Interesse der Kinder für den Umzug mit Container, was wir später auch nur "punktuell" verfluchten, insgesamt jedoch über alle Maßen genossen. Die Bürokratie und Sorge um das Einhalten von Verträgen, beruflichen Verbindlichkeiten und Terminen übte in diesen Wochen einen starken Druck aus, dem es neben den weiterlaufenden alltäglichen Verpflichtungen standzuhalten galt. Im Nachhinein erwiesen sich alle Betroffenen im Prozess des Auflösens in Bremen sowie dem des Aufbaus in São Paulo als bemerkenswert entgegenkommend und hilfsbereit, sodass sich für den im Juli nahenden Abflug in bisher völlig unbekannte Gefilde tatsächlich gleichermaßen in all dem Trubel ein Riesengefühl der Freude entwickeln konnte. Bepackt mit acht Koffern machten wir vier uns dann auf die 20-stündige Reise, ebenso im Gepäck etwas Wehmut im Loslassen, aber umso mehr Neugier und Vorfreude auf das, was uns in vielerlei Ungewissheit erwartete.
Neue Wege und Eindrücke in der Metropole São Paulo
Die Tatsache, dass wir nach unserer Landung in São Paulo noch knapp fünf Stunden auf dem Flughafen verweilen mussten, weil der mit uns verabredete Fahrer am Vortag leider verstorben war, erwies sich als Vorbote für viele Situationen, die uns in Brasilien begegneten: Der Punkt, an dem man das Gefühl bekommt, jetzt geht es kein Stück weiter, Hilflosigkeit, Traurigkeit und /oder Wut machen sich breit und dann eröffnet sich urplötzlich jedoch ein kleiner Ausweg- der jeitinho. Dieser sollte uns zukünftig häufiger begegnen und natürlich war das auch in diesem tragischen Fall gegeben, sodass wir erstmals die Fahrt vom Flughafen quer durch die ganze Stadt nach Interlagos erlebten. Diese dann gut einstündige Tour über die Strecke von ca. 40 km quer durch die Stadt (später leider oft auch als dreistündige Reise erfahren) vermittelte uns einen allerersten Eindruck dieser 16-Millionen-Einwohner-Mega-City in all ihren Nuancen, die nunmehr unser aller Zuhause sein sollte. Die Unmittelbarkeit von Reichtum und Armut, von Hochglanz und Müllbergen, von Modernem und Ruinösem sollte uns von nun an begleiten und faszinierte und erschlug uns in diesen ersten Momenten gleichermaßen. Das Gefühl des Erschlagenseins von dieser Stadt, diesem Land verblasste im Laufe der kommenden Jahre, das Gefühl der Faszination wuchs hingegen ständig an.
Viel Hilfsbereitschaft im Alltag
Mit unserer Ankunft knüpften wir direkt an unseren Marathon vor unserer Abreise in umgekehrter Weise an. Nach der Phase des Auflösens begann die Phase des Wiedereinrichtens. Wenig Zeit bis zum Arbeitsbeginn, vorübergehend in einer möblierten Gästewohnung untergekommen, galt es Ärzte, Supermärkte, Wege und die geheimnisvollen Strukturen der brasilianischen Bürokratie zu erkunden. Insbesondere letzteres hätte sich anfangs ohne die Unterstützung sprach- und ortskundiger und so sehr hilfsbereiter Mitmenschen als ein nahezu unmögliches Unterfangen gestaltet. Auch hier aber half uns in mancher kleinen Ungeduld und Verzweiflung immer wieder die erfreuliche Begegnung mit dem jeitinho, der Freundlichkeit und dem Improvisationstalent vieler Brasilianerinnen und Brasilianer. Mit dem Beginn der Arbeit verdichteten sich die Dinge, die es dennoch weiter zu erledigen galt mit dem Anspruch, die Sprache schnellstmöglich zu optimieren und der Tatsache, die neue Umgebung in ihrer Imposanz, mit ihren Menschen und dem Klima tagtäglich als immer wieder beeindruckend zu erleben.
Lehren und Lernen
Der erste Schultag erwies sich für alle Familienmitglieder als überaus spannend. Für den Kleinen war es in einer Kindergruppe der Beginn einer rasend schnellen Sprachentwicklung: innerhalb eines halben Jahres lernte er dermaßen viel, dass er sich dann mit seinen neuen kleinen Freunden nahezu fehlerfrei auf portugiesisch unterhalten konnte. Auch dem siebzehnjährige Sohn gelang ein erfreulicher Einstieg in seine neue Schulklasse, dem Jahrgang vor dem Abitur. Durch den häufigen Wechsel in der Schülerschaft, da viele Familien kommen und gehen, wird es Neuankömmlingen leicht gemacht, in die Gruppe zu finden. Die Kinder und Jugendlichen gehen freundlich und offen aufeinander zu und wissen oft selbst allzu gut, wie schwierig so manchem das Ankommen in einem fremden Land erscheinen mag und welche Gefühle damit verbunden sind. Dasselbe lässt sich über meinen ersten Arbeitstag berichten. Die große Hilfsbereitschaft bereits vielfach erfahren, zeigte sich auch im Kollegium eine Willkommenskultur, die sich durch Offenheit, Unterstützung und viele lächelnde Gesichter auszeichnete. Als Fachleiterin für DaF lag mein Aufgabenbereich vornehmlich im brasilianischen Zweig. Ich war zuständig für die Organisation und Koordination der Deutschen Sprachdiplome, die Unterrichtsentwicklung und das DaF-Kollegium vom Kindergarten bis zur Berufsschulabteilung. An meiner Seite hatte ich eine brasilianische Mitkoordinatorin, die mir all das, was mir an Abläufen, Regularien und Formalien für diesen Bereich noch nicht vertraut war, näher brachte und sich als eine unermüdliche und zuverlässige Kollegin (und Freundin) in all den Jahren erwies.