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Als DaF-Fachleiterin am Colégio Humboldt in São Paulo

Knapp fünf Jahre lebte Pamela Beetz mit ihrer Familie in São Paulo. Sie arbeitete im Stadtteil Interlagos als Fachleiterin für Deutsch als Fremdsprache an der Deutschen Schule, dem Colégio Humboldt. Ein Rückkehrerbericht.

Interlagos, vielen durch die Formel-1-Rennstrecke ein Begriff, ist ein beschauliches Viertel im südlichen Teil São Paulos. Das gleichzeitige Leben und Arbeiten in diesem Stadtteil bietet für eine Familie viele Vorteile - insbesondere den, sich viel Lebenszeit zu ersparen, indem man sich von dem täglichen Verkehrszirkus dieser immer pulsierenden Metropole unabhängig macht.

Vorüberlegungen und Entscheidungen

Für unsere Vorüberlegungen – von Planungen kann kaum die Rede sein – blieben uns in der Gänze gut zwei Monate Zeit: Im Mai 2010 konnten wir dem Colégio Humboldt meinen Arbeitsbeginn zum 1. August 2010 bestätigen und das Rotieren begann in aller Konkretion: zwei Kinder im Alter von 17 und 2 Jahren, keine Arbeitserlaubnis für den mitreisenden Ehepartner in Brasilien, Haus in Deutschland, alter Kater, Auto, Sprachunterricht, Versicherungen und so weiter und so fort. Es ging bis hin zu der Frage, ob nun mit oder, wie empfohlen, ohne Container. Letztendlich entschieden wir uns im Interesse der Kinder für den Umzug mit Container, was wir später auch nur "punktuell" verfluchten, insgesamt jedoch über alle Maßen genossen. Die Bürokratie und Sorge um das Einhalten von Verträgen, beruflichen Verbindlichkeiten und Terminen übte in diesen Wochen einen starken Druck aus, dem es neben den weiterlaufenden alltäglichen Verpflichtungen standzuhalten galt. Im Nachhinein erwiesen sich alle Betroffenen im Prozess des Auflösens in Bremen sowie dem des Aufbaus in São Paulo als bemerkenswert entgegenkommend und hilfsbereit, sodass sich für den im Juli nahenden Abflug in bisher völlig unbekannte Gefilde tatsächlich gleichermaßen in all dem Trubel ein Riesengefühl der Freude entwickeln konnte. Bepackt mit acht Koffern machten wir vier uns dann auf die 20-stündige Reise, ebenso im Gepäck etwas Wehmut im Loslassen, aber umso mehr Neugier und Vorfreude auf das, was uns in vielerlei Ungewissheit erwartete.

Neue Wege und Eindrücke in der Metropole São Paulo

Die Tatsache, dass wir nach unserer Landung in São Paulo noch knapp fünf Stunden auf dem Flughafen verweilen mussten, weil der mit uns verabredete Fahrer am Vortag leider verstorben war, erwies sich als Vorbote für viele Situationen, die uns in Brasilien begegneten: Der Punkt, an dem man das Gefühl bekommt, jetzt geht es kein Stück weiter, Hilflosigkeit, Traurigkeit und /oder Wut machen sich breit und dann eröffnet sich urplötzlich jedoch ein kleiner Ausweg- der jeitinho. Dieser sollte uns zukünftig häufiger begegnen und natürlich war das auch in diesem tragischen Fall gegeben, sodass wir erstmals die Fahrt vom Flughafen quer durch die ganze Stadt nach Interlagos erlebten. Diese dann gut einstündige Tour über die Strecke von ca. 40 km quer durch die Stadt (später leider oft auch als dreistündige Reise erfahren) vermittelte uns einen allerersten Eindruck dieser 16-Millionen-Einwohner-Mega-City in all ihren Nuancen, die nunmehr unser aller Zuhause sein sollte. Die Unmittelbarkeit von Reichtum und Armut, von Hochglanz und Müllbergen, von Modernem und Ruinösem sollte uns von nun an begleiten und faszinierte und erschlug uns in diesen ersten Momenten gleichermaßen. Das Gefühl des Erschlagenseins von dieser Stadt, diesem Land verblasste im Laufe der kommenden Jahre, das Gefühl der Faszination wuchs hingegen ständig an.

Viel Hilfsbereitschaft im Alltag

Mit unserer Ankunft knüpften wir direkt an unseren Marathon vor unserer Abreise in umgekehrter Weise an. Nach der Phase des Auflösens begann die Phase des Wiedereinrichtens. Wenig Zeit bis zum Arbeitsbeginn, vorübergehend in einer möblierten Gästewohnung untergekommen, galt es Ärzte, Supermärkte, Wege und die geheimnisvollen Strukturen der brasilianischen Bürokratie zu erkunden. Insbesondere letzteres hätte sich anfangs ohne die Unterstützung sprach- und ortskundiger und so sehr hilfsbereiter Mitmenschen als ein nahezu unmögliches Unterfangen gestaltet. Auch hier aber half uns in mancher kleinen Ungeduld und Verzweiflung immer wieder die erfreuliche Begegnung mit dem jeitinho, der Freundlichkeit und dem Improvisationstalent vieler Brasilianerinnen und Brasilianer. Mit dem Beginn der Arbeit verdichteten sich die Dinge, die es dennoch weiter zu erledigen galt mit dem Anspruch, die Sprache schnellstmöglich zu optimieren und der Tatsache, die neue Umgebung in ihrer Imposanz, mit ihren Menschen und dem Klima tagtäglich als immer wieder beeindruckend zu erleben.

Lehren und Lernen

Der erste Schultag erwies sich für alle Familienmitglieder als überaus spannend. Für den Kleinen war es in einer Kindergruppe der Beginn einer rasend schnellen Sprachentwicklung: innerhalb eines halben Jahres lernte er dermaßen viel, dass er sich dann mit seinen neuen kleinen Freunden nahezu fehlerfrei auf portugiesisch unterhalten konnte. Auch dem siebzehnjährige Sohn gelang ein erfreulicher Einstieg in seine neue Schulklasse, dem Jahrgang vor dem Abitur. Durch den häufigen Wechsel in der Schülerschaft, da viele Familien kommen und gehen, wird es Neuankömmlingen leicht gemacht, in die Gruppe zu finden. Die Kinder und Jugendlichen gehen freundlich und offen aufeinander zu und wissen oft selbst allzu gut, wie schwierig so manchem das Ankommen in einem fremden Land erscheinen mag und welche Gefühle damit verbunden sind. Dasselbe lässt sich über meinen ersten Arbeitstag berichten. Die große Hilfsbereitschaft bereits vielfach erfahren, zeigte sich auch im Kollegium eine Willkommenskultur, die sich durch Offenheit, Unterstützung und viele lächelnde Gesichter auszeichnete. Als Fachleiterin für DaF lag mein Aufgabenbereich vornehmlich im brasilianischen Zweig. Ich war zuständig für die Organisation und Koordination der Deutschen Sprachdiplome, die Unterrichtsentwicklung und das DaF-Kollegium vom Kindergarten bis zur Berufsschulabteilung. An meiner Seite hatte ich eine brasilianische Mitkoordinatorin, die mir all das, was mir an Abläufen, Regularien und Formalien für diesen Bereich noch nicht vertraut war, näher brachte und sich als eine unermüdliche und zuverlässige Kollegin (und Freundin) in all den Jahren erwies.

 

Eltern wirken (mit)

Das Colégio Humboldt selbst ist eine von zwei Deutschen Schulen in São Paulo. In dieser Begegnungsschule werden ca. 1.200 Schülerinnen und Schüler jeweils im brasilianischen oder deutschen Zweig unterrichtet. Die Ausstattung und das Gelände bieten großartige Arbeitsbedingungen für alle Beteiligten und laden auch viele Lernende, die nicht in unmittelbarer Umgebung der Schule leben, zum Lernen ein. Die Schülerschaft, vornehmlich aus wohlhabenden Familien kommend, bildete eine interessante Mischung vieler Nationalitäten, die Stimmung untereinander war geprägt von gegenseitigem Respekt und insgesamt fröhlich sowie ungemein lebendig. Der Einfluss der Eltern ist als ausgesprochen hoch einzuschätzen, was auf der einen Seite eine sehr gute Zusammenarbeit beinhalten kann, aber auch ein Konfliktpotential, das u.a. darauf basiert, dass manch ein Elternteil das Wirken von Lehrkräften dem seiner üblichen Hausangestellten gleichstellt und entsprechend agiert. Erfreulicherweise handelt es sich hierbei um seltene Ausnahmen, für die man sich jedoch wappnen sollte, falls eines der regelmäßigen Elterngespräche ansteht.

 

Unterschiede im Status der Lehrkräfte

Generell gestalten sich die Hierachien an einer Auslandsschule anders als im Inland. Der Vorstand kann mitunter imensen Einfluss nehmen und auch die Schulleitung kann in dem Geflecht von Abhängigkeiten (weniger Vertragssicherheit für Ortslehrkräfte, der Wunsch nach Verlängerung oder ein positives Gutachten für die Auslandslehrer) sowie weniger Hilfsangebote in Krisensituationen für die Lehrkräfte durchaus anders agieren. Das Kollegium setzt sich aus ADLKs, BPLKs und brasilianischen und deutschen Ortslehrkräften zusammen. Die Einlassung der Kolleginnen und Kollegen aufeinander war immer von großer Freundlichkeit geprägt, es entwickelten sich gute Kooperationen und Freundschaften. Natürlich gab es durchaus auch distanzierteres Verhalten oder auch Konflikte, die z.B. aus den unterschiedlichen Lebensbedingungen (Bezahlungen), Unterrichtsansätzen/-methoden oder auch der Tatsache, dass die Einheimischen mitunter über 20 Jahre an der Schule verweilen, während ADLKs und BPLKs sich eher auf einer „mehrjährigen Durchreise“ befinden, resultierten. Aber schlussendlich tat dies dem insgesamt positiven Arbeitsklima keinen Abbruch - fand doch in der Auseinandersetzung um  einzelne Aspekte durchaus ebenfalls eine konstruktive Einlassung aufeinander statt.

 

Kooperation mit anderen Schulen

Für Kreativität und persönliches Engagement bietet das Colégio Humboldt einen fruchtbaren Boden. In der Unterrichtszeit von 7.10 Uhr bis 16.00 Uhr oder auch während der zahlreichen Aktivitäten außerhalb dessen haben die Lehrkräfte viele Möglichkeiten, ihre Ideen einzubringen, zu gestalten und umzusetzen. Meine Tätigkeit (und die Schulleitung) erlaubte mir hier vielerlei Einblicke und Reisen: Als DaF-Fachleiterin gehörte es zu meiner Aufgaben, den Prüfungsvorsitz der mündlichen DSD-Prüfungen an den brasilianischen Schulen mit Deutschem Sprachdiplom in ganz São Paulo zu übernehmen, sodass ich diverse Schulen und Kolleginnen und Kollegen kennenlernen durfte. Zudem beinhaltete die Kooperation mit den anderen Fachleitern des Raumes São Paulo - Rio de Janeiro häufige Reisen nach Rio. Dabei hatte die Ankündigung an meine Familie mit den Worten: "Ihr Lieben, nächste Woche muss ich wegen eines Seminars kurz nach Rio" gerade am Anfang unseres Aufenthaltes etwas unglaublich Surreales.

 

Mobilisierung von Energien und Mobilitäten

Der Aufbau und die Organisation des Projektes „Jugend debattiert“, von der schulinternen Fortbildung über die Ausbildung von über 80 Kolleginnen und Kollegen aus ganz Brasilien bis hin zum ersten nationalen Wettbewerb im deutsch-brasilianischen Jahr 2014 war eine wunderbare Erfahrung, die ich auch mit meinem Mann teilen konnte: Für ihn war die Umstellung vom Vollzeit- und Vollblutlehrer zum Hausmann nicht in der Gänze erquickend, doch hier konnte er sich ebenfalls in vielerlei Hinsicht einbringen und das Projekt vorantreiben. Andere berufliche Aktivitäten ermöglichten zusätzliche Reisen in ganz Südamerika (internationales Sportfest in Bogotá, Fortbildungsangebote in Quito, Buenos Aires und Mexico-City), ein Bonus, der durchaus die Mobilisierung zusätzlicher Arbeitsenergien beanspruchte, aber in den Eindrücken und Erfahrungen über alle Maßen lohnenswert war.

 

Außerhalb der Schule und…die Zeit

Außerhalb der Schule blieb nicht immer viel Raum für groß angelegte Aktivitäten. Dennoch gab es natürlich viele gemeinsame Unternehmungen mit Freunden und Bekannten, das Erkunden der Stadt, in den Ferien von Teilen des Landes und am liebsten immer wieder an einen der nahe gelegenen wunderschönen Strände. Für den Nachwuchs entwickelte sich ebenso eine Routine mit Freunden in der Schule und in Vereinen des Stadtteils, die es ihnen ermöglichte, sich heimisch und wohl zu fühlen. Sprachliche Barrieren gab es mit der Zeit nicht mehr und unter Berücksichtigung einiger Sicherheitsaspekte war der ganzen Familie ein unbeschwerter Alltag möglich. Die Erkrankung meiner Mutter führte nach drei Jahren erstmals zu Überlegungen hinsichtlich einer Rückkehr, konkrete Maßnahmen folgten im vierten Jahr und knapp fünf Jahre nach unserer Ankunft traten wir mit ausgeprägten Empfindungen sowohl von Traurigkeit aber auch Vorfreude unsere Rückreise an.

 

Zurück

Nach allen erfolgreichen Bemühungen, von Brasilien aus bereits für ein Zuhause und eine berufliche Perspektive zu sorgen, unterstützt in dieser Phase der Ungewissheit durch die Flexibilität von ZfA, den Schulleitungen und heimischer Behörde, begann in Deutschland das erneute Einleben und Einrichten. Nach ein paar arbeitsfreien Tagen und in noch möbelfreier Umgebung begann ich mit meiner aktuellen Tätigkeit als stellvertretende Schulleiterin. Die Gleichzeitigkeit neuer beruflicher Herausforderungen mit der Wiedereinrichtung des gesamten Umfeldes für die ganze Familie erwies sich bei allem, das doch so sehr vertraut erschien, langwieriger als erwartet. Die Rückkehr in das doch weitgehend bekannte Umfeld ging einher mit sehr gemischten Gefühlen: der Blick auf vieles hatte sich verändert, manches wurde nun mehr oder auch minder wertgeschätzt, erhielt eine andere Qualität oder Wichtigkeit und die temporäre Distanz hatte insgesamt eine Neujustierung von Prioritäten in sehr klarer und gelassener Form geschaffen. In allem bleiben bis heute die großartigen Bilder und Erfahrungen eines ganz besonderen Lebensabschnittes lebendig, die auch immer wieder - mal leiser, mal lauter - neugierig auf erneute Erfahrungen mit dem Auslandsschuldienst machen.