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GEW in Bildung unterwegs

26 Schreibtische für 38 Kollegen

Ganztagsschulen in Deutschland: Sanierungsstau, zu wenig Platz, keine geeigneten Räume. GEW-Chefin Marlis Tepe hat auf ihrer Sommertour 2019 die Möwenseegrundschule, eine der ältesten Ganztagsschulen Berlins, besucht.

Eigentlich sieht alles gut aus in dieser Schulbibliothek. Die Regalreihen sind dicht gefüllt. Gespenstergeschichten von Otfried Preußler stehen neben „Kalle, Mücke, Otto und ich“, Astrid Lindgren nicht weit von Pflanzenkunde, Deutsch und Mathe. Grüne Stühle, weiße Resopaltische, von draußen scheint die Sonne herein. „Wird die Bibliothek denn auch genutzt?“ fragt die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. „Oh ja, sehr viel“, antwortet Freizeitleiter Claas Thomas. „Von Schülern und Kitakindern.“ Oft ist nicht genug Platz für alle in der ehemaligen Stadtbücherei, die jetzt Schulbibliothek ist. Denn die Schule hat sich gewandelt. Früher besuchten nicht mal 300 Kinder die Grundschule, heute sind es 480. „Die Ausstattung wird längst nicht mehr unserem Bedarf gerecht“, sagt Thomas.

Tepe besucht auf der GEW in Bildung unterwegs-Tour an diesem Montag im Mai die Berliner Möwenseeschule, eine verschachtelte Anlage von Flachbauten. Grüne Atrien, Sitzterrassen, enge Innenhöfe mit Tischtennisplatten, weitläufige Sandkästen, Klettergerüste, Fußball- und Basketballplatz. Die Ganztagsschule im Berliner Brennpunktbezirk Wedding ist eine der ältesten der Hauptstadt. Seit Mitte der 70-er Jahre sind Kita und Grundschule unter einem Dach vereint, der rhythmisierte Schulalltag im gebundenen Ganztag wurde dort erprobt – in einem Modellprojekt, das richtungsweisend Lernen an einer Ganztagsschule sein sollte.

Heute ist Ganztag vielerorts Standard. Dabei wird deutlich sichtbar: Das System kann nur gelingen, wenn die Bedingungen stimmen. Eine Ganztagsschule braucht Räume für unterschiedliche Lernformen, für große und kleine Gruppen, zum Toben, Zurückziehen und Essen, ausreichend Platz für Lehrerinnen und Lehrer – und Gebäude in gutem Zustand. Doch es hakt an vielen Schulen. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) spricht von 48 Milliarden Euro Investitionsstau für Schulbau und Sanierung bundesweit. „Dagegen müssen wir dringend etwas tun“, sagt Tepe. Deshalb will sie auf ihrer Ländertour „GEW in Bildung unterwegs“ begleitet vom Berliner GEW-Vorsitzenden Tom Erdmann schauen: Wo hakt es genau an Ganztagsschulen wie der Möwenseeschule?

„Die Doppelnutzung der Klassenzimmer ist für uns ein großes Problem.“ (Heiko Müller)

Schulleiter Heiko Müller stößt die Tür zum Klassenraum neben der Bibliothek auf. „Dies war früher unser Konferenzraum, wegen der steigenden Schülerzahlen müssen wir ihn für Unterricht und Freizeit zugleich nutzen“. Oft verbringen die Kinder den ganzen Tag dort, mal fällt Essen runter, oft fehlt die Abwechslung. „Heute Morgen ist die Klasse daher auswärts unterwegs, im Seniorenheim ums Eck“, erläutert Müller. Es fehlt an ausreichenden Freizeiträumen. Die Berliner GEW fordert mindestens drei Quadratmeter Nutzfläche für jedes Grundschulkind im Ganztag. Zu Recht, findet Müller: „Die Doppelnutzung der Klassenzimmer ist für uns ein großes Problem.“

Ebenso wie die Technik im ehemaligen Sprachlabor nebenan. Heute ist dort der IT-Raum. Rechner säumen die Wände, viele sind veraltet. Was neu sei, habe sich die Schule selbst organisiert, sagt Müller. Zwar hat Berlin ein Programm angeschoben, mit dem 250 IT-Expertinnen und Experten zum Support an Schulen geschickt werden. Einer davon bringt gerade einen zwei Jahre alten Desktoprechner wieder in Schwung. Doch das hilft nur bedingt. Wenn viele Schüler online seien, sei das Netz „extrem langsam“, klagt Müller, „oft bricht es zusammen, hier gibt es wirklich Handlungsbedarf“. Hätten wenigstens die Lehrkräfte alle einen eigenen Arbeitsplatz. „26 Schreibtische für 38 Kollegen?“ Tepe schüttelt den Kopf. „Wie soll das gehen an einer Ganztagsschule.“ 

Der Übergang vom Klassenzimmertrakt zur Mensa führt über graue Bodenmatten, die sich an den Rändern nach oben wellen - eine tägliche Stolperfalle für Hunderte Schülerinnen und Schüler.  Freizeitbereichs-Chef Thomas ärgert das immer wieder. Eines Tages lieferte die Post 14 Matten bei der Schule ab, mit schönen Grüßen von der Verwaltung. „Wozu diese Ausgabe?“, ärgert sich Thomas. Viel wichtiger sei es, endlich eine angemessene Beleuchtung in der Mensa zu ermöglichen. Stattdessen grelles Neonlicht. Die LED-Spots, die das Freizeitteam in einigen Bereichen einbauen ließ, dürfen nicht mehr betrieben werden - aus baurechtlichen Gründen, hieß es im Bezirksamt. „Aber wenn wir mit den Kindern in der Mensa auch basteln oder gemütlich beisammensitzen wollen, brauchen wir passende Lichtverhältnisse.“

„Unsere Rollstuhlkinder müssen wir tragen.“ (Carola Schaefer)

Zum Glück bietet die Mensa mit 180 Plätzen und vier Küchen einigermaßen Raum, um 480 Kinder in drei Schichten zu bekochen. Viele andere Berliner Ganztagsschulen sind davon weit entfernt. Kurzfristig und ohne Absprache mit den Schulen führte der Senat das Gratismittagsessen in Ganztagsschulen ein. 9.000 Kinder müssen in Berlin nun täglich bekocht werden. „Doch vielen Einrichtungen fehlt der Platz in Mensen und Schulküchen“, kritisiert Erdmann, „Chaos ist vorprogrammiert“. Einige Schulen kooperieren schon mit Restaurants, Freizeitzentren und Caterern um die Ecke. „Die Entscheidung war sozialpolitisch richtig, bildungspolitisch zu schnell“, sagt Erdmann.

Im Erdgeschoss ist derweil Tohuwabohu: Fünf Kinder tanzen mit ihrer Erzieherin wild im Kreis. Die Kita Petersallee ist im gleichen Gebäudetrakt, die Kooperation seit jeher eng. Doch die Zusammenarbeit wird schwieriger. „Weil Platz an der Schule fehlt, können wir nicht mehr garantieren, dass jedes Kind nach der Kita an die Möwenseeschule gehen kann“, sagt Kitaleiterin Carola Schaefer. Den Eltern ist das manchmal schwer zu erklären. Auch sonst gibt es Probleme: Manchmal sind die Zuständigkeiten der Verwaltung nicht klar, Reparaturen ziehen sich bis zu einem Jahr. Wo jahrzehntelang eine gemeinsame Gebäudereinigung durch die Räume wischte, müssen sich jetzt Schule und Kita getrennt Reinigungsfirmen suchen. Und obwohl die Waschräume neulich saniert wurden, fehlt es immer noch an barrierefreien Verbindungen zwischen den einzelnen Bereichen. „Unsere Rollstuhlkinder müssen wir tragen“, sagt Schaefer.

„Schulbau ist eine riesige Herausforderung, bei der die Länder nicht allein gelassen werden dürfen.“ (Marlis Tepe)

Neben der Möwenseeschule ragen Kräne neben dem Westflügel in den Himmel. Seit Ostern ist dort Baustelle. Container mit Platz für zwölf Klassen werden bis Oktober errichtet. Mitspracherecht bei der Gestaltung des Neubaus hatte die Schulleitung – außer bei der Farbwahl - nicht, Raumaufteilung und Struktur sind bei Containerbauten standardisiert. „Aber es ist ein Anfang, über den wir uns riesig freuen“, sagt Thomas. Über den bleibenden Sanierungsbedarf täuscht er aber nicht hinweg: Rostschlieren ziehen sich an der Wand des Hauptgebäudes entlang, der Beton bröckelt. Der Pfusch am Bau in den 70-er Jahren, als der Beton über den Stahlträgern statt der vorgeschriebenen 2 nur 0,7 Zentimeter dick gezogen wurde, ist unübersehbar.

Tepe schüttelt wieder den Kopf. „Schulbau ist eine riesige Herausforderung, bei der die Länder nicht allein gelassen werden dürfen. Die 3,5 Milliarden Euro, die die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode für Neubauten und Sanierung bereitstellt, sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Sie bekräftigt die Forderung, das Kooperationsverbot in der Bildung abzuschaffen, damit Bundesmittel problemlos in Schulbau und Sanierung fließen könnten. „Wir als Gewerkschaft kämpfen dafür, im nationalen Bildungsrat vertreten zu sein, um stärker mitreden zu können.“ Bislang steht der Zugang nur Einzelpersonen offen. „Wir brauchen endlich eine Qualitätsoffensive für den Ganztag. Denn nur wenn die Bedingungen stimmen, kann er tatsächlich gelingen.“

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