- E&W: Die Bildungsstätte Anne Frank hat mit „(K)eine Glaubensfrage“ eine Handreichung zum Umgang mit religiöser Vielfalt für Pädagoginnen und Pädagogen herausgegeben. Warum?
Saba-Nur Cheema: Wir haben festgestellt, dass Religion – oft in kulturalisierter Form – zunehmend Thema in pädagogischen Räumen wird. Angesichts dessen fühlen sich viele Pädagoginnen und Pädagogen unsicher; sie wissen nicht, wie sie mit religiösen Bedürfnissen und steigender Religiosität umgehen sollen. Auch Lehrkräfte melden zunehmend Bedarf an qualifizierter Begleitung und Unterstützung im Umgang mit Religion sowie religiösen Konflikten im Schulalltag an.
- E&W: Was meinen Sie mit Religionen „in kulturalisierter Form“?
Cheema: Häufig werden die Herkunft aus einem islamisch geprägten Land, Migrationsgeschichte und Kultur vermischt und benutzt, um bestimmte Handlungen auf religiöse Gründe zurückzuführen. Zum Beispiel: Wenn ein Schüler aus einer muslimischen Familie auf einer Klassenfahrt keine Teller spülen will, wird seine Abwehr auf die „Kultur des Islams“ bezogen. Bei einem Schüler, der nicht als Muslim gelabelt ist, wird eher angeführt, dass er einfach faul ist.
- E&W: Wie nehmen Sie Pädagoginnen und Pädagogen mit Blick auf den Umgang mit Religionen wahr?
Cheema: Bei Fortbildungen stellen wir hinsichtlich religiöser Vielfalt ein Hauptthema fest: Der Fokus liegt auf dem Islam und darauf, dass muslimische Schülerinnen und Schüler „anders“ und schwierig(er) sind. Immer wieder höre ich von Teilnehmenden, dass sie nicht wissen, wie sie mit muslimischen Schülerinnen und Schülern umgehen sollen – etwa, wenn ein Mädchen angefangen hat, Kopftuch zu tragen, oder nicht am Schwimmunterricht teilnehmen will. Viele nehmen es so wahr, dass muslimische Schülerinnen und Schüler immer mehr fordern. Dieser Verunsicherung steht die Vorstellung gegenüber, dass Religion in einer als säkular empfundenen Schule keinen Raum haben sollte. Beobachten lässt sich auch: Die Frage, ob religiöse Bedürfnisse eine Rolle spielen sollten, wird überdurchschnittlich oft für Kinder und Jugendliche relevant, die entweder muslimisch sind – oder unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit oder Religiosität als Muslime markiert werden.
- E&W: Wie reagieren Schülerinnen und Schüler auf diese Zuschreibungen?
Cheema: Ich möchte mit einem Beispiel antworten: Ein Siebtklässler erzählte mir, er antworte auf die Frage, woher er kommt, nur noch mit: „Ich bin Muslim“ – weil seine Antwort, er sei Frankfurter, nicht akzeptiert und stattdessen immer wieder nach der tatsächlichen Herkunft gefragt wird. Wenn er sagt, seine Familie stamme aus Marokko, bekomme er zur Antwort: „Ach, Du bist also Muslim.“ Das heißt: Wir müssen uns Alltagssituationen anschauen und uns fragen, wo Probleme beginnen. Die wiederholten Fremdzuschreibungen, in denen Jugendliche vor allem als Muslimin oder Muslim gesehen werden, führen zu einer Art Annahme des Stigmas: In einigen Fällen führt das zu einer stärkeren Verbundenheit mit der Gruppe der Musliminnen und Muslime und einer Hinwendung zum Islam.
- E&W: Welche Ansätze gibt es im pädagogischen Raum, aus diesem Dilemma rauszukommen?
Cheema: Reflektieren über eigene Vor-Urteile und Zuschreibungen – das machen wir in Schulungen und in Workshops gemeinsam mit den Teilnehmenden. Zur pädagogischen Professionalität gehört, eigene Vorurteile und Stereotype zu reflektieren, seien es antimuslimische oder antisemitische. Auch die Handreichung enthält dafür Übungen. Für Pädagoginnen und Pädagogen ist wichtig, vor-urteilsbewusst zu agieren, nicht zuschreibend zu sprechen und zu handeln, nicht zu stigmatisieren und vor allem, Aussagen und Handlungen von Schülerinnen und Schülern im Konfliktfall nicht mit deren Identität zu erklären. In der Intervention ist zentral, Person und vermeintlichen Hintergrund des Problems zu trennen und sich allein der Handlung zu widmen, um den Konflikt zu beenden. Ich will damit nicht wegreden, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine Rolle spielt.
- E&W: Aber …
Cheema: … aber in dem akuten Moment ist nicht wichtig, wer warum wie gehandelt hat. Später kann und sollte über die Frage, wo das Problem aus der Sicht der Beteiligten lag, durchaus gesprochen werden. In der Nachsorge kann angewendet werden, was in der Präventionsarbeit an Regeln entwickelt wurde. Insgesamt unterscheiden wir zwischen drei Phasen, die unterschiedlich zu behandeln sind: Prävention, Intervention und Nachsorge. Dazu passt, dass wir uns in unseren Workshops mit Schülerinnen und Schülern wie mit pädagogisch Handelnden anschauen, was es heißt, in einer pluralen Gesellschaft zu leben; wie wir Herkunft, Religion, Geschlecht et cetera bewerten. Und wie wir im Alltag damit umgehen, also wen wir mit welchen Zuschreibungen markieren und welchen Einfluss unser Verhalten auf den jeweils anderen hat.
- E&W: Brauchen Pädagoginnen und Pädagogen besondere Kenntnisse, um „religionsbedingten“ Konflikten gewachsen zu sein?
Cheema: Um tatsächliche oder vermeintlich religiöse Probleme anzugehen, braucht es kein profundes Wissen – beispielsweise darüber, ob und warum das Kopftuch religiöse Pflicht ist. Man muss nicht die Inhalte der Religionen kennen, um die Glaubenspraxis von etwa Juden, Muslimen oder Buddhisten zu akzeptieren. Zu den notwendigen Kompetenzen, um mit religiöser Vielfalt konstruktiv umgehen zu können, zählen andere: der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen mit Blick auf ihre positive wie negative Religionsfreiheit zum Beispiel. Um religiös bedingte oder vermeintlich religiös motivierte Konflikte zu bewältigen, gilt es, den Fokus auf Grund- und Menschenrechte auf Basis unserer Verfassung zu richten.