Fünf Jahre lang haben die Richter des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen und die Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Klagen von zwei abgelehnten Studienbewerbern hin und her geschoben. Mehrfach wurden die Anträge eines ausgebildeten Rettungssanitäters und einer Krankenpflegerin auf Zulassung zum Medizinstudium mit Hinweis auf ihre nur mäßigen Abiturnoten von verschiedenen Universitäten abgewiesen. Die Verwaltungsrichter in Gelsenkirchen ließen nicht locker: Seit 2012 begehrten sie vom höchsten deutschen Gericht Klärung, ob eine Wartezeit von 14 bis 15 Semestern auf einen der begehrten Medizinstudienplätze noch mit Artikel 12 des Grundgesetzes auf freie Wahl von Beruf und Ausbildungsstätte zu vereinbaren sei.
Seit der Änderung des Hochschulrahmengesetzes 2002/2003 haben Universitäten zwar die Möglichkeit, sich in bundesweiten Fächern mit Numerus clausus (NC) 60 Prozent ihrer Studienanfänger selbst auszusuchen. Kriterien sollten dabei unter anderem Motivation, Interesse am medizinischen Beruf und entsprechende Vorbildung sein. Doch stattdessen schauen die Unis immer noch primär auf die Abinote. Derzeit bewerben sich jährlich rund 62.000 junge Menschen auf etwa 11.000 Medizinstudienplätze. Der Abbau fast jedes dritten Medizinstudienplatzes in den vergangenen Jahren erfolgte zum einen aus Kostengründen: Für einen Medizinstudienplatz werden rund 36.000 Euro pro Jahr veranschlagt, für andere Studienplätze etwa 26.000 Euro. Zum anderen argumentierten die Gesundheitsminister: Je mehr Ärzte es gibt, desto kränker gibt sich die Gesellschaft, desto mehr steigen die Gesundheitskosten. Heute wird dagegen bundesweit ein Ärztemangel beklagt – und das nicht nur auf dem flachen Land.
Das weit reichende Karlsruher Urteil hat nun wesentliche Konsequenzen:
- Der über die vergangenen Jahre zwischen den Ländern mühsam ausgehandelte neue Staatsvertrag zur Hochschulzulassung, der gerade von 16 Landesparlamenten ratifiziert wird, ist völlige Makulatur.
- Die Verfassungsrichter betonen ausdrücklich die Interessen der Bewerberinnen und Bewerber und die Bedeutung ihrer Berufswahlfreiheit nach Artikel 12 GG – und zwar deutlich vorrangig vor den Auswahlinteressen der Hochschulen und der Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 GG.
- Auswahlgespräche oder individuelle Kriterien der Hochschulen für die Bewerberauswahl müssen bundesweit standardisiert, sprich justiziabel sein – das heißt im Einzelfall von Gerichten auch überprüfbar.
- Von den Bewerberinnen und Bewerbern angegebene Ortspräferenzen dürfen in der Auswahlwahlpraxis der Hochschulen nur noch eine nachrangige Rolle spielen.
- Die Richter stellten fest, dass die Abiturnoten wegen der in den Ländern unterschiedlichen Häufigkeit von Einser-Noten-Vergaben bundesweit nicht vergleichbar seien. Dies müsse bei der Bewerberauswahl berücksichtigt werden.
- Und wer das Urteil sorgsam liest, kommt zu dem Schluss, dass alle Aussagen nicht nur für die medizinischen Studiengänge Konsequenzen haben müssten, sondern für alle NC-Fächer.
GEW-Vize und Hochschulexperte Andreas Keller fordert von der neuen Bundesregierung, „schnellstmöglich die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen schaffen, um den NC zu überwinden“. Dazu gehöre ein weiterer Ausbau der Studienplätze. Zugleich habe der Bund ein bundesweit gültiges Hochschulzulassungsrecht zu schaffen. „Alle Studienbewerberinnen und -bewerber müssen eine realistische Chance haben, zugelassen zu werden – nicht nur die mit einem Einser-Abi oder reichen Eltern, die sich eine Zulassungsklage leisten können.“
Der Artikel von Karl-Heinz Reith ist in voller Länge in der Februarausgabe der „E&W“ nachzulesen.