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Coronapandemie

Nagelprobe für die Ampel

Für das Corona-Aufholprogramm stellt die Bundesregierung eine Milliarde Euro bereit. Wie können die Gelder sozial gerecht verteilt werden? E&W sprach mit Detlef Fickermann, Redaktionsleiter „Die Deutsche Schule“ (DDS) der GEW.

Die Corona-Pandemie verschärft die soziale Ungleichheit auch im Schulbereich. (Foto: mauritius images/SlayStorm/Alamy)
  • E&W: Warum braucht es ein Programm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“?  

Detlef Fickermann: Die Verantwortlichen für Bildung und viele Lehrkräfte gehen davon aus, dass durch den pandemiebedingten Unterrichtsausfall Lernrückstände bei den Schülerinnen und Schülern entstanden sind. Deshalb braucht es kompensatorische Maßnahmen, damit die Lücken möglichst geschlossen werden.

  • E&W: Welche Kinder und Jugendlichen sind besonders betroffen?

Fickermann: Allgemein wird angenommen, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler und solche mit Migrationshintergrund die größten Lernrückstände aufweisen.

  • E&W: Nach welchen Kriterien werden die Gelder des Bundes an die Länder verteilt?

Fickermann: Besonders etabliert ist der Königsteiner Schlüssel. Dieser richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen des Landes und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl. Er vernachlässigt aber zum Beispiel, dass die Bevölkerung ganz unterschiedlich aufgebaut ist. Es gibt Länder mit einem vergleichsweise geringen Anteil an Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter. Diese bekommen dann überproportional viel Geld, wenn man es auf die einzelne Schülerin, den einzelnen Schüler bezieht. Ein solcher Schlüssel ist für zweckgebundene Finanzzuwendungen an die Länder grundsätzlich nicht geeignet.

  • E&W: Was sollte ein Verteilungsschlüssel

für Zuwendungen leisten?

Fickermann: Profitieren sollten vor allem die Bundesländer, die ein nicht so hohes Steueraufkommen haben, und Länder, in denen die jeweilige Zielgruppe überproportional groß ist. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gute Bildung für die Menschen darf nicht davon abhängen, in welchem Bundesland ich lebe oder in welcher Gemeinde.

  • E&W: Sie haben – zusammen mit Ilka Hoffmann, die bis Juni 2021 Vorstandsmitglied der GEW war – Modelle für sieben alternative Verteilungsschlüssel zur Diskussion gestellt. Welche Kriterien werden dabei berücksichtigt?

Fickermann: Beispielsweise die Zahl der Schülerinnen und Schüler im schulpflichtigen Alter im jeweiligen Bundesland. Zudem die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die jünger als 18 Jahre sind und deren Familien Leistungen nach Sozialgesetzbuch II beziehen, oder die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

  • E&W: Welche Bundesländer bekämen zusätzliche Gelder, wenn der alternative Verteilungsschlüssel eingesetzt würde?

Fickermann: Das von uns zur Diskussion gestellte Modell 6 berücksichtigt jeweils zu einem Drittel die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, die Zahl der Abgängerinnen und Abgänger ohne Hauptschulabschluss nach Beendigung der Pflichtschulzeit sowie die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, die in Bedarfsgemeinschaften leben. Berlin würde danach rund 17 Millionen Euro mehr erhalten. Auch Nordrhein-Westfalen wäre ein „Gewinnerland“, mit einem Plus von 44 Millionen Euro. In beiden Bundesländern leben überproportional viele Kinder in Bedarfsgemeinschaften und besonders viele Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit.

  • E&W: Zu den Verlierern würden die fünf Ost-Bundesländer gehören. Sachsen etwa müsste auf knapp zwölf Millionen Euro verzichten. Das überrascht.

Fickermann: In den Ost-Bundesländern leben vergleichsweise wenige Kinder mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Das schlägt dann durch. Weniger Mittel würden auch die wohlhabenden Länder im Süden bekommen, wenn statt nach dem Königsteiner Schlüssel nach unserem Verteilungsschlüssel gerechnet würde. Bayern würde statt 155 Millionen Euro 121 Millionen Euro erhalten. Ähnlich erginge es Baden-Württemberg.

  • E&W: Immense Verschiebungen – wäre das politisch überhaupt durchzusetzen?

Fickermann: Die weitergehende Frage ist: Setzt sich die neue Bundesregierung für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit ein, wie im Koalitionsvertrag angekündigt? Die Ampelparteien haben sich in ihrem Koalitionsvertrag unter anderem darauf verständigt, 4.000 Schulen in besonders schwieriger Lage zusätzlich zu fördern. Das wird die Nagelprobe sein. Wenn dort wieder der Königsteiner Schlüssel zugrunde gelegt würde, wird erneut ein Land wie Bayern überproportional profitieren. Dann würde die Koalition ihren eigenen Anspruch geradezu mit Füßen treten.

  • E&W: Gibt es im Bildungswesen Beispiele dafür, wie Gelder nach sozialen Kriterien verteilt werden?

Fickermann: Wenn es ums Verteilen innerhalb eines Landes geht, gibt es sehr schöne Beispiele. Hamburg etwa hat einen Sozialindex. Schulen mit Sozialindex 1 oder 2 sind sozial hoch belastet. Dann gibt es Schulen mit Sozialindex 5 oder 6. Die sind wenig bis gar nicht belastet. Ist die Schule sozial hoch belastet, werden etwa Grundschulklassen mit weniger Schülerinnen und Schülern gebildet und das Land stellt die Mittel für die zusätzlich benötigten Lehrkräfte bereit.

  • E&W: Wie geht es weiter mit dem Thema?

Fickermann: Die GEW hat mich und die Hochschullehrer Horst Weishaupt, Jörg Peter Schräpler und Hans-Peter Füssel gebeten, ein Gutachten anzufertigen, in dem wir Vorschläge für mögliche Verteilungsschlüssel erarbeiten und die rechtlichen Möglichkeiten prüfen, Verteilungsschlüssel mit sozialen Merkmalen im Bildungsbereich zu verbinden. Spätestens Ende März soll das Gutachten fertig sein. 

„Sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler und solche mit Migrationshintergrund weisen die größten Lernrückstände auf.“ (Detlef Fickermann, Redaktionsleiter / Foto: privat)