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Rassismus

Mut zur Erkenntnis

In der deutschsprachigen Sozial- und Erziehungswissenschaft galt Rassismus lange nicht als seriöse Analysekategorie, die Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Rassedenken bestenfalls als marginal relevant. Das sollte sich ändern.

Paul Mecheril, Professor für Migration und Bildung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Auch heute noch tun sich weite Teile der Sozial- und Erziehungswissenschaft, aber auch der politischen Bildung und der Schulpädagogik, schwer, „Rassekonstruktion“ als Analysekategorie zu verwenden – obwohl rassistische Gewalt seit Jahrzehnten geltende Normalität ist, „hate speech“ Konjunktur hat, trotz der verbreitet hohen Zustimmung zu rassistischen Figuren der Begründung einer Grenzpolitik, die täglich Menschen sterben lässt, und trotz des NSU-Komplexes. Die Weigerung, Rassismus als Analysekategorie der Gegenwart ernst zu nehmen, hat einen Leerraum bewahrt, der der Wirksamkeit des Rassedenkens und -fühlens dienlich war und ist.

Rassismuskritik erklärt Gewalt gegen natio-ethno-kulturell kodierte Andere nicht mit Abstiegserfahrungen und -ängsten in „der Bevölkerung“. Sie verweist vielmehr darauf, dass der Umstand, dass Abstiegs- oder Desintegrationserfahrungen zu rassistischen Handlungen und Affekten führen, selbst erklärungswürdig ist. Das Rassedenken und -fühlen wirkt über Mediendiskurse, ökonomische Strukturen, Schulbücher, politische Verlautbarungen, familiale Narrationen („Opa war kein Nazi“) und dominanzkulturelle Hintergrundannahmen als gesellschaftliche Normalität in der Mitte der Gesellschaft.

Rassismus ist eine Analysekategorie, die gewöhnliche gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Phänomene untersucht. Alltagsrassismus, der sich zum Teil unbewusst und gewissermaßen hinter dem Rücken der – auch pädagogischen – Akteure ereignet, ist durch zwei Momente gekennzeichnet: Erstens wird durch Rückgriff auf diffuse Konzepte wie Kultur, Ethnizität oder auch Religion eine Art essenzielle Differenz im Wesen des Menschen behauptet. Zweitens wird diese natio-ethno-kulturelle Differenzkonstruktion als Erklärung und Legitimation dafür verwendet, „die Anderen“ schlechter zu behandeln.

Instrumente entwickeln

Erstes Ziel, um Attraktivität, Sinn und Funktionalität der Verwendung rassistisch gegründeter Schemata zu verändern, muss deshalb sein: analytische Instrumente und den durchaus aufklärerischen Mut zu entwickeln, erstens  die rassistische Grundierung bestimmter Sozial- und Humandifferenzierungen überhaupt erst zu erkennen und zweitens Alternativen zu diesem Denken zu entwickeln.  

Rassismus hat Konjunktur, wenn eine bestimmte, auch von „Rassekonstruktionen“ stabilisierte Ordnung in Frage steht. Gerade in Zeiten, in denen – nicht zuletzt durch postkoloniale Migrationsbewegungen – die gegebene (welt-)gesellschaftliche Ordnung ins Wanken gerät, und damit auch die symbolische und materielle Vorrangstellung des Westens und (des weiß imaginierten) Europas, tritt interaktive, strukturelle und institutionelle Gewalt vermehrt auf: gegen jene, die die Legitimität dieser Ordnung – etwa des Beharrens auf unseren Wohlstand – und ihre Funktionalität – etwa von Grenzkontrollen – in Frage stellen.

Geflüchtete beispielsweise machen deutlich, dass Europas symbolischer („wir sind zivilisiert“) und materieller („Autofahren und der Zugang zu trinkbarem Wasser stehen uns zu“) Vorranganspruch mindestens auf moralischer Ebene fraglich ist. Die im Rahmen des Rassedenkens und -fühlens über lange Zeit erprobte und eingeübte Herabwürdigung und Dämonisierung der Anderen ermöglicht, dass in der Krise des Vorranganspruchs dieser bestehen bleibt und damit auch die global-lokale Ordnung. Direkte und indirekte Infragestellungen dieser Ordnung werden verhindert. Zum Beispiel indem die Boten der Botschaft von der Ungleichheit in der Welt – von der Europa und auch Deutschland sich recht gut nähren – politisch und alltagskulturell mit Blick auf etwa ihr vermeintlich terroristisches oder sexuelles Gefährdungspotenzial diskreditiert werden. Rassekonstruktionen sind – wir beobachten es täglich in Äußerungen europäischer Politiker, aber auch im Lehrerzimmer, auf der Straße, im Fußballstadion und erfahren es zuweilen am eigenen Leib – in dieser Kreditpraxis ein probates Mittel.