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Ganztag

Muffins und Schildkröten für alle

Die Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt am Main war die erste Ganztagsschule in Westdeutschland. Bis heute ist man hier fest überzeugt, dass das Modell allen guttut.

Das pädagogische Konzept der Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt a.M. zielt auf eine demokratische Erziehung für alle Kinder. (Foto: Christoph Boeckheler)

Mit blauen Eimern in der Hand flitzen vier Jungen nach der sechsten Stunde auf den Schulhof. „Wir füttern die Schildkröten“, erklärt Jasper, 11. Die Fünftklässler rupfen händeweise Löwenzahn aus. Danach hocken sie sich im kleinen Innenhof hinter dem Lehrerzimmer der Friedrich-Ebert-Schule im Schatten eines Trompetenbaums zu den Schildkröten auf die Erde. „Hmm, lecker“, ruft Jonas und wedelt mit Grashalmen. Eine Schildkröte kraxelt eilig näher. „Sie heißt Chili“, sagt Lennart. „Pepper mag keine Hitze und bleibt lieber in ihrem Häuschen.“ Nach ein paar Minuten müssen die Schüler weiter, die Treppe runter zur Schulküche, Muffins backen. Nach der kurzen Pause beginnt ihre Koch-AG.

„Wir leiten die Kinder dazu an, soziale Kompetenzen zu erwerben, Stärken herauszufinden und Grenzen auszutesten.“ (Simone Hofmann)

Parallel kümmern sich andere Schülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule um Bienen, tanzen Breakdance, spielen Futsal oder Tischtennis. Alternativ können sie klettern, gärtnern, werkeln, trommeln, fotografieren oder, oder, oder. Die Liste der Arbeitsgemeinschaften ist lang. Die Friedrich-Ebert-Schule im Stadtteil Seckbach ist eine Ganztagsschule. Um genau zu sein: die erste Ganztagsschule in Westdeutschland überhaupt. Zunächst 1954 als Schulversuch gestartet, wurde das Modell ab 1965 fest für die gesamte Schule eingeführt, inklusive Unterricht am Nachmittag und Mittagessen. Damals wie heute, betont Schulleiterin Simone Hofmann, „stärkt die Ganztagsschule die Bildungschancen aller Kinder“. In der Ganztagsschule gehe es um viel mehr als darum, nur Vokabeln zu lernen. „Wir leiten die Kinder dazu an, soziale Kompetenzen zu erwerben, Stärken herauszufinden und Grenzen auszutesten.“

Die Gesamtschule im Frankfurter Osten grenzt an den Atzelberg, eine Siedlung mit Hochhäusern. Auf dem Schulhof kickt Horst Schumacher mit Sechstklässlern, die Jungen rennen in der Sonne über den Platz, schießen den Ball über das Tor. „Abstoß“, ruft der Trainer. Dreimal pro Woche bietet er die Futsal-AG an. Da Geflüchtete aus der Ukraine in der Sporthalle untergebracht sind, spielen sie draußen. Früher habe er die Futsalmannschaft von Eintracht Frankfurt trainiert, jetzt Schüler der 5. bis 7. Klasse. Worum es ihm vor allem geht? „Die Kids sind beschäftigt“, sagt Schumacher. „Die meisten gehen sonst nicht nach Hause, und hier gibt es ein warmes Mittagessen.“

Kinder in ihrer Entwicklung fördern

In der Schulküche rühren Mädchen und Jungen aus Eiern, Mehl, Zucker und Milch einen Teig zusammen. Ständig ruft jemand: „Frau Schmekies, können Sie mal kurz gucken?“ – „Oh, der Ofen piepst!“ – „Ist der Teig so gut?“ Die AG-Leiterin rennt hin und her, hilft hier und dort. „Wo haben die Eltern schon Zeit, mit den Kindern zu kochen?“, fragt die Leiterin des Ganztagsbereichs, Sabine Gericke. „Klar, gibt es solche Schüler, aber viele können nicht mal eine Gurke schneiden.“ Nicht jede Familie kann sich teure Freizeitaktivitäten leisten. In der Ganztagsschule bekommen alle die Gelegenheit, sich um ein Tier zu kümmern, Fahrräder zu reparieren, mit Holz zu arbeiten, Theater zu spielen, Sport zu treiben oder kreativ tätig zu werden. Die Pädagogin ist überzeugt, dass Schule nicht nur die Aufgabe hat, Lerninhalte zu vermitteln. „Arbeitsgemeinschaften sind nicht Pillepalle“, betont Gericke. „Es geht darum, die Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern.“

Zudem ermögliche die Ganztagsschule, den Schulalltag viel besser an die biorhythmischen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler anzupassen, erklärt Hofmann, „da wir nicht eingeschränkt sind auf ein Zeitfenster von 8 bis 13 Uhr“. Phasen der An- und Entspannung wechselten sich ab. Hartnäckig halte sich die Vorstellung, dass Ganztagsschulen lediglich ein paar Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag anbieten – und fertig, kritisiert die Schulleiterin. „Das ist vollkommen falsch“, meint Hofmann. „Die ganze Struktur ist davon betroffen.“ Sie legt einen Stundenplan der 5. Klasse auf den Tisch, tippt mit dem Zeigefinger auf die gelb markierten Kästchen: Jeden Tag ist viel freie Lernzeit eingeplant. Im Lernatelier arbeiten die Kinder selbstständig an Themen, in ihrem eigenen Tempo. In der Schule bekämen die Schülerinnen und Schüler genug Zeit zum Üben und Unterstützung beim Lernen, so dass sie zu Hause nicht mehr arbeiten müssten, betont Hofmann. „Wenn sie nach Hause gehen, haben sie auch wirklich frei.“

Arbeit im Team

Die Friedrich-Ebert-Schule wurde in der Weimarer Republik als Reformschule gegründet. Das pädagogische Konzept zielte auf eine demokratische Schule für alle Kinder. Als in der Zeit des Nachkriegsbooms immer mehr Eltern ganztags arbeiteten und ihre Kinder alleine mit einem Schlüssel nach Hause kamen, stellte die Schule ein Ganztagsangebot auf die Beine. Die Nachfrage war enorm – aus allen sozialen Schichten. Heute gehört die Friedrich-Ebert-Schule zu den ganz wenigen Ganztagsschulen mit Profil 3 in Frankfurt.

Die allermeisten Schulen verfügen über Ganztagsangebote mit Profil 1 oder 2, das heißt: Sie bieten Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote und teilweise Mittagessen – allerdings ist die Teilnahme freiwillig. Nur in einer Handvoll Schulen in der Bankenmetropole bleiben alle Schülerinnen und Schüler verbindlich bis zum Nachmittag. In der Friedrich-Ebert-Schule gilt diese Regel bislang für drei Tage: Montag und Donnerstag ist Unterricht bis 15.50 Uhr, zusätzlich müssen die Kinder an einem weiteren Nachmittag eine AG besuchen. „Wir möchten unser Ganztagsmodell gerne noch ausweiten“, sagt die Schulleiterin. „Wir sehen, wie gut es den Kindern tut.“

Für die Betreuung der Schülerinnen und Schüler sind nicht in erster Linie die Lehrkräfte zuständig. Zum einen ließen sich von ihrer Arbeitszeit schwer zwei Stunden abknapsen, sagt Hofmann. „Zum anderen sind sie aufgrund ihrer Rolle die falschen Personen.“ Kinder bräuchten Raum, ohne sich kontrolliert oder bewertet zu fühlen. „Deshalb arbeiten wir stark im Team.“ An der Gesamtschule mit knapp 600 Schülerinnen und Schülern sind drei Jugendsozialarbeiterinnen und -arbeiter des Internationalen Bunds (IB) fest im Einsatz.

Horst Schumacher leitet die Futsal-AG. Auch wenn der Job mit 19 Euro pro Stunde nicht sehr lukrativ ist, macht ihm die Arbeit Spaß. (Foto: Christoph Boeckheler)

AGs mit Honorarkräften

Jeden Morgen bieten sie den Kindern vor der Schule ein gesundes Frühstück an, mit Müsli und Vollkornbrot. Außerdem machen sie Pausenangebote und sind auch mal im Unterricht dabei. „Sie sind für die Kinder erste Ansprechpartner, wenn es mal Probleme gibt“, berichtet Gericke. Eine sozialpädagogische Fachkraft ist im Clubraum und im Schülercafé präsent, ein junger Mann, der ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, spielt in der Mittagspause mit den Kindern Karten.

Zum Team zu gehören, ist Schumacher von der AG Futsal sehr wichtig. Vorher war er an einer anderen Schule, dort habe es ihm aber nicht so gefallen. „Ich war da niemand“, sagt die Honorarkraft, „keiner hat mit mir geredet.“ Das sei an der Friedrich-Ebert-Schule anders. Klar, reich werde er mit den Arbeitsgruppen, die er anbietet, nicht. „Aber es passt.“ Das Training mit den Kids mache ihm Spaß.

Die Arbeitsgemeinschaften leiten externe Honorarkräfte, für 19 Euro pro Stunde. „Der Job ist leider nicht sehr lukrativ“, sagt die Schulleiterin. Im Flur hängt ein Zeitungsbericht über eine Rope-Skipping-Artistin aus Frankfurt, die bei Weltmeisterschaften im Seilspringen antritt. „Weltweit buchen Leute ihre Kurse“, heißt es in dem Artikel. An der Friedrich-Ebert-Schule bietet sie eine AG für Schülerinnen und Schüler an. Allerdings ist der Trainerin das Geld auf Dauer zu wenig. „Unser Budget gibt leider nicht mehr her“, bedauert Gericke. Für das neue Schuljahr konnten sie nochmal eine Lösung finden. Aber es sei immer schwierig, sagt Hofmann, „Leute für so wenig Geld zu gewinnen“.

Und wie finden es die Kinder, in eine Ganztagsschule zu gehen? Lennart nimmt die Schildkröte auf den Arm und lächelt über das ganze Gesicht. „Cool“, sagt der Elfjährige. Finde er es manchmal blöd, länger in der Schule bleiben zu müssen als andere Kinder? „Wieso?“ Der Junge zuckt mit den Schultern: „Meine ganzen Freunde sind doch hier.“ Und am besten sei, dass sie nie Hausaufgaben machen müssten.